Baustelle Demokratie
Beschäftigung. Unter der scheinbar positiven Chiffre »Mehr Eigenverantwortung!« wird für Millionen von Menschen Unfreiheit organisiert. Ein rhetorisch äußerst geschicktes Manöver, denn wer wäre nicht für mehr Eigenverantwortung?
Folgen für die Bürgergesellschaft und das Engagement
Warum nun dieser ausführliche Exkurs zur sozialen Lage in Deutschland? Ganz einfach: Die skizzierte Entwicklung wirkt sich signifikant auf die Bereitschaft zum bürgerschaftlichen Engagement aus, ja sie verändert seinen Charakter. Wenn die soziale Lage prekärer wird, schadet das der Bürgergesellschaft. Denn die Folge des zunehmenden Wohlstandsgefälles und der Prekarisierung der Arbeitswelt sind Angst- und Unsicherheitsgefühle. Das betrifft vor allem die unteren sozialen Schichten, breitet sich aber mittlerweile bis in die gesellschaftliche Mitte aus: »Die Angst kriecht die Bürotürme hinauf« (Stefan Hradil, zitiert aus Geißler 2010, 26). Die Sorge um Arbeitsplatz und Lebensstandard ist zwar häufig unbegründet, denn zum Glück lebt ja nach wie vor der Großteil der Gesellschaft in Wohlstand und sozialer Sicherheit. Doch ist die Sorge real vorhanden. Auch grundlose Befürchtungen sind objektiver Bestandteil der Welt, und daher hilft der Hinweis, die Lage sei doch gar nicht so dramatisch, nicht weiter. Diese Entwicklung ist Gift für die Entfaltung des bürgerschaftlichen Engagements, was sich auch empirisch zeigen lässt. Bürgerschaftliches Engagement ist angewiesen auf ein Grundvertrauen in die soziale und demokratische Ordnung. Es kann sich am besten entfalten, wenn es im wahrsten Sinne des Wortes aus freien Stücken geschieht. Der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung stellt dazu fest, dass die Aktivitäten im bürgerschaftlichen Engagement von Einkommen und Bildung abhängen (Bundesregierung 2008). Menschen, die ein niedriges Einkommen beziehen und in unsicheren Verhältnissen leben, engagieren sich weniger als andere für das Gemeinwesen, weil sie sich natürlich zunächst einmal den existenziellen Fragen stellen müssen: Wie füllt sich der Kühlschrank, oder wie kann man seinen Kindern eine vernünftige Perspektive bieten?
Das ist das Problem der mittleren und gehobenen Schichten und aller gelehrten Diskurse über die Gesellschaft und ihre Schieflagen: Sie erkennen nicht die soziale Unsichtbarkeit, in die einen materielle Not führt (Honneth 2003). Die sozial Erschöpften und Insolventen bringen meist nicht die Kraft auf, in Kategorien des Gemeinwesens zu denken und zu handeln. Sie kommen dort nicht vor. Ökonomisches und sozialpolitisches Versagen hat sie zu Ausgeschlossenen gemacht. Diejenigen, die sich trotzdem engagieren, sind Ausnahme und Vorbild zugleich (vgl. Klatt / Walter 2011). Sie stemmen sich gegen die desintegrativen Tendenzen der Ökonomisierung und Verrechtlichung der Lebenswelt, doch nach derzeitiger Lage der Dinge haben sie keine Chance, andernorts verursachte soziale Verwerfungen in ihrer eigenen Lebenswelt zu kompensieren. Der aktuelle Freiwilligensurvey im Auftrag der Bundesregierung stellt die Situation gut dar. So ist zwar bei der Gruppe der Hartz-IV-Empfänger die Bereitschaft zum bürgerschaftlichen Engagement sehr hoch (höher als bei Erwerbstätigen), doch tatsächlich engagieren sich nur 22 Prozent der Betroffenen – im Vergleich zu über 40 Prozent bei den Erwerbstätigen (vgl. Gensicke 2010, 22).
Das Problem besteht aber nicht nur in der mangelhaften Beteiligung in Abhängigkeit vom negativen sozialen Status. Vielmehr gibt es eine bedenkliche Tendenz, das bürgerschaftliche Engagement als Ersatz für sozialstaatliches Handeln zu instrumentalisieren. Die oft vorgetragene Behauptung, »Der Staat kann heute nicht mehr alles leisten«, wird zunehmend wie eine objektive Wahrheit behandelt, was dazu führt, dass man sich wie selbstverständlich nach Ersatzakteuren im sozialen Bereich umsieht. Die Bürgergesellschaft und das bürgerschaftliche Engagement sind dafür – neben der Privatisierung staatlicher Dienstleistungen – die Favoriten. Mit Hilfe einer Rhetorik der Anerkennung – »Die Engagierten leisten einen unschätzbaren Beitrag…« – wird die Instrumentalisierung in einen positiven Zusammenhang gerückt. Das macht die Sache nicht besser. Statt Engagementpolitik als Sozialpolitik zu verstehen und soziale Bedingungen so zu verbessern, dass alle Menschen die Möglichkeit zu gesellschaftlicher Teilhabe und damit auch zum Engagement für das
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