Baustelle Demokratie
die gesellschaftlichen Probleme in Deutschland auf demokratischem Weg lösen lassen. Auch bei dieser Frage zeigt sich die Krise der Demokratie besonders ausgeprägt in Ostdeutschland. Hier sind 52 Prozent der Menschen der Ansicht, die Demokratie eigne sich nur schlecht zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme. Der Politikverdruss schlägt in Demokratiedistanz um. Und diese Einschätzung findet ihre Bestätigung durch den Befund, dass 41 Prozent der Ostdeutschen dem Satz »Eigentlich will ich die Demokratie, aber so, wie sie heute bei uns ist, habe ich damit nichts zu tun« zustimmen; beziehungsweise stimmen 32 Prozent dem Satz zwar nicht zu, geben aber an, Verständnis für die Aussage zu haben (Deutschland gesamt: 25 Prozent und 34 Prozent). Schließlich hält die große Mehrheit der Bundesbürger (78 Prozent) die deutsche Gesellschaftsordnung zwar für verteidigenswert (25 Prozent vorbehaltlos, weitere 53 Prozent mit Einschränkungen). Aber erschreckende 22 Prozent der Deutschen sind gegenteiliger Auffassung.
Es spricht heute einiges dafür, dass wir uns einem Zustand der »Postdemokratie« (vgl. zum Folgenden Crouch 2008) nähern: Während die rechtsstaatlichen Verfahren einwandfrei funktionieren, wird der Sinn von demokratischer Politik, nämlich die argumentative Auseinandersetzung über plausible gemeinwohlorientierte Praxis, mehr und mehr ausgehöhlt. Es finden zwar Wahlen statt, doch schon der Weg dorthin (Wahlkämpfe, Parteitage, öffentliche Inszenierungen) ist so sehr von einer professionellen PR-Maschinerie und der Entmündigung des Publikums bestimmt, dass die zentrale Voraussetzung für demokratische Wahlen, nämlich das politische Urteilsvermögen des Wahlvolks, nicht gefördert, sondern im Gegenteil durch manipulative Strategien gefährdet wird, ja sogar aktiv mittels eines ausschließlich strategischen Kommunikationsverhaltens getrübt werden soll. Zwar werden in Parlamenten demokratische Entscheidungen getroffen, doch die Vorbereitung dieser Entscheidungen fällt mehr und mehr unter den Einfluss privilegierter Eliten in informellen Kreisen (vgl. ebd., 13). Konzerne und ihre Dachverbände werden wie selbstverständlich bei Gesetzgebungsverfahren einbezogen und wie Institutionen behandelt, deren Stimme stark gewichtet wird – ganz so, als seien sie demokratisch legitimiert. Die Einbeziehung geht so weit, dass sogar Referenten der Arbeitgeber- und Industrieverbände in die Ministerien entsendet werden, um dort bei der Formulierung von Gesetzestexten direkt mitzuwirken. Großkonzerne haben einen institutionellen Charakter erlangt, der ihnen ohne demokratische Legitimation quasi gesetzgeberische Kompetenzen beschert.
Das unbehagliche Gefühl, dass die politische Meinungsbildung und Entscheidungsfindung nur zum Schein öffentlich, in Wahrheit jedoch intransparent »im Hintergrund« stattfindet, ist also zumindest nicht unbegründet und schlägt sich im Bewusstsein vieler Menschen nieder. Es wird dadurch verstärkt, dass etwa im Deutschen Bundestag regelmäßig gegen große Meinungsmehrheiten in der Bevölkerung entschieden wird. Der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr, der Börsengang der Deutschen Bahn, die Rente mit 67 und die Hartz-Gesetze sind nur die bekanntesten Beispiele für diese Entwicklung, mit der die Demokratie als ein »egalitäres Projekt« (ebd., 13) zunehmend in die Defensive gerät. Andere Entscheidungen, die von einer großen Mehrheit der Bevölkerung begrüßt würden, kommen dagegen partout nicht zustande. Dazu zählen etwa der gesetzliche Mindestlohn, eine Finanztransaktionssteuer, die konsequente Regulierung des Bankensektors, das »Drei-Liter-Auto«, eine höhere Besteuerung für Wohlhabende oder auch die Überwindung des kontraproduktiven Bildungsföderalismus. Diese häufigen Widersprüche zwischen politischen Erwartungen und politischen Beschlüssen lösen zunehmend Befremden und auch Verärgerung über die verfasste Politik aus. Wenn sogar Wohlhabende – wie seit einigen Jahren in Deutschland aktuell – eine »Reichensteuer« fordern, weil sie der Gesellschaft etwas zurückgeben wollen, spricht das für eine durchaus im Wandel befindliche gesellschaftliche Stimmung zum Thema Umverteilung und soziale Gerechtigkeit. Was fehlt, ist der politische Wille.
Demokratie ist auf Verwirklichung von Freiheit, das heißt auf die Entfaltung kommunikativer Vernunft im öffentlichen Raum, angelegt. Dies ist ihr Daseinsgrund. Wenn sie dieser Funktion nicht mehr gerecht
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