Baustelle Demokratie
Arbeitslose und sozial Benachteiligte weder mit Artikel 1 (Menschenwürde) noch mit Artikel 20 (Sozialstaatsgebot) des Grundgesetzes vereinbar ist: Wenn es um die Grundsicherung der materiellen Existenz von Menschen geht, darf der Staat nicht »nach Kassenlage« vorgehen, wie es konkret geschehen war. Außerdem muss die Berechnung des Existenzminimums transparent und nachvollziehbar sein, was nicht der Fall war. Die Bundesregierung erhielt den unmissverständlichen Auftrag, das Existenzminimum neu zu berechnen und vor allem die Kriterien für die Berechnung transparent zu machen (vgl. dazu Lenze 2010).
Ohne die Geschichte hier in Gänze ausbreiten zu können: Die politischen Akteure lieferten schließlich den Beweis, dass selbst ein solch glasklares Urteil des Verfassungsgerichts »missinterpretiert« werden kann. Monatelangen Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat, bei denen es in quälender Manier um die Frage ging, ob »Hartz IV« nun um ein paar Euro erhöht werden soll oder nicht, folgte ein lauer Kompromiss, der bald wieder vor dem Verfassungsgericht anhängig sein dürfte. Statt eine offensive sozialpolitische Debatte über soziale Mindeststandards und die Bedingungen für gesellschaftliche Teilhabe zu führen, ging es vor allem der Bundesregierung (mit Arbeitsministerin Ursula von der Leyen als Wortführerin) lediglich darum, etwas halbwegs Rechtskonformes und für die Staatskasse nicht zu Teures zu Wege zu bringen. Zu keinem Zeitpunkt hatte man das Gefühl, dass die Bundesregierung tatsächlich die Menschenwürde und den damit verbundenen Auftrag aus Karlsruhe vor Augen hatte. Die Anhebung des monatlichen Regelsatzes um zehn Euro seit Januar 2012 (von 364 auf 374 Euro) wird für die auf staatliche Unterstützung Angewiesenen keines ihrer materiellen Probleme lösen. Und auch die Erhöhung um fünf Euro für Ehepartner (auf 337 Euro) oder für Kinder bis fünf Jahre um vier Euro (auf 219 Euro) verbessert die Lage der betroffenen Familien nicht.
Wer mit zehn Euro mehr im Monat auf eine neue Waschmaschine ansparen soll, fühlt sich nicht unterstützt, sondern verraten und verkauft. Dazu kommt: Die Einführung eines sogenannten »Bildungs- und Teilhabepakets« für sozial benachteiligte Kinder – der zweite Hauptpunkt des Kompromisspakets – erweist sich für die meisten Betroffenen als ein vergiftetes Geschenk, enthält es doch neben erheblichen bürokratischen Hürden bei der Beantragung auch die Unterstellung, dass man Eltern kein zusätzliches Geld geben dürfe, weil sie es angeblich nicht zum Wohl ihrer Kinder, sondern für Flachbildschirme und Alkohol verwenden. Auch dies ist eine staatlich produzierte Entmutigungsstrategie, die Menschen kaum dabei helfen dürfte, ihr Leben selbstständig zu meistern.
Wer mit solchen Unterstellungen Politik macht, fördert nicht die Fähigkeit, »mehr Eigenverantwortung« zu übernehmen. Das Beispiel ist sehr typisch für das heutige Verständnis von Politik. In ihr dominiert nach wie vor ein Mainstream, dem zufolge staatliches Handeln und gesellschaftliche Verantwortung nebeneinander herlaufen. Anders gesagt: Die Vorstellung, dass Politik ohne Beteiligung von Betroffenen gemacht werden kann, ist (noch) sehr weit verbreitet. Es herrscht ein ausgeprägt instrumentelles und mechanisches Politikverständnis vor: Demokratische Wahlen bestimmen die Zusammensetzung von Parlamenten und Regierungen für vier oder fünf Jahre, damit ist die Legitimationsfrage geklärt. Dass Demokratie heute so nicht mehr funktionieren kann, weil die legitimen gesellschaftlichen Mitbestimmungsansprüche heute viel größer als noch vor 20 Jahren sind, kommt in dieser Sichtweise – entgegen allen rhetorischen Bekenntnissen zu mehr Bürgerbeteiligung – nicht vor.
Die Vertrauenskrise der Politik ist entstanden, weil man – im Banne von »Sonntagsfragen« und »Politbarometern« – völlig vergessen hat, dass demokratische Politik nur dann akzeptanzfähig sein kann, wenn sie eine Politik für soziale Gerechtigkeit ist und auch als solche wahrgenommen wird. Das Geschiebe und Gezerre um die Hartz-Regelsätze hat sehr deutlich gezeigt, wie selbstbezüglich und selbstgesteuert Politik oft funktioniert. Ihr Bezugspunkt ist nicht – oder genauer: nicht in erster Linie – das gesellschaftliche Geschehen, sondern die Eigengesetzlichkeit des politischen Betriebs. Der Betrieb selbst ist dabei mit sich selbst im Einklang, ohne
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