Baustelle Demokratie
Gemeinwesen haben, wird das bürgerschaftliche Engagement in eine sozialpolitische Funktion gerückt, die nur der Staat mit seiner ordnungspolitischen und fiskalischen Macht erfüllen könnte. Wo Sozialpolitik sein sollte, wird bürgerschaftliches Engagement angesiedelt.
Insofern wirkt die sich verschärfende soziale Lage in Deutschland paradoxerweise gleichermaßen als Bremse und Anschub für das Engagement. Sie bremst das Engagement, weil für viele Menschen die sozialen Voraussetzungen nicht gegeben sind; und sie schiebt das Engagement in einer problematischen Weise an, weil Leistungen der sozialen Daseinsvorsorge (Pflege, Ernährung, Wohnen usw.) vom Staat nicht mehr hinreichend gewährleistet und damit in eine Grauzone gerückt werden. So dreht sich etwa seit der Gründung der Tafelbewegung Anfang bis Mitte der 1990er-Jahre die Diskussion um die Frage, ob hier nicht – bei aller guten Absicht – eine Kompensation für staatliches Versagen entwickelt werde, durch die Armut nicht bekämpft, sondern befestigt wird. Indem die Tafeln überschüssige Lebensmittel bei Supermärkten, Restaurants und Hotels einsammeln und sie (meist) kostenlos an Bedürftige verteilen, übernehmen sie einen Teil der genuin staatlichen Aufgabe der sozialen Daseinsvorsorge. Das Engagement übernimmt Kernaufgaben des Staates – eine bedenkliche Tendenz.
Von Umfallern und Opportunisten
Die Krise der Politik, die wir gegenwärtig erleben, ist eine Krise des Vertrauens. Sie ist der zweite große Hemmschuh für bürgerschaftliches Engagement, ein voluminöses Hindernis für die Entfaltung der Bürgergesellschaft in Deutschland. Dabei ist das bürgerschaftliche Engagement das entscheidende Bindeglied zwischen Politik und Gesellschaft. Demokratische Politik braucht eine aktive Bürgergesellschaft als Resonanzkörper und »Frühwarnsystem« für problematische Entwicklungen. Ansonsten droht sie an ihrem eigenen Institutionengeflecht und an der Kolonisierung der Lebenswelt durch administrative Zwänge zu ersticken. Das Leerlaufen von Machtpolitik, die um ihrer selbst willen stattfindet und die keinen konkreten Bezug mehr zur Lebenswirklichkeit von Menschen hat, raubt der Demokratie die Emphase. Die demokratische Gesellschaft ist aber auf bürgerschaftliche Emphase angewiesen – darauf, dass Menschen sich für sie einsetzen und sich für das Gemeinwohl engagieren, es zu ihrer eigenen Sache machen. Je weltfremder und »abgehobener« oder selbstbezüglicher Politik ist, desto mehr wird Demokratie für Menschen zum Abstraktum, nimmt ihre Relevanz für den gesellschaftlichen Alltag ab. Die Entfremdung der Volksherrschaft von sich selbst ist ein Szenario, das vor allem in den letzten Jahren in den Blick geraten ist (vgl. Embacher 2009). Und das betrifft längst nicht nur die skandalträchtigen Ereignisse um Parteispenden, gefälschte Doktorarbeiten, private Vorteilsnahme und selbstverliebte Parteigänger. Viel gravierender sind die »inhaltlichen« und damit moralischen Realitätsverluste der Politik.
Nehmen wir ein Beispiel aus dem Kernfeld des Politischen, der sozialen Daseinsvorsorge. Das Staatsverständnis in Deutschland ist darauf ausgelegt, dass die Bundesrepublik ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat ist, dessen Daseinsgrund in der Menschenwürde besteht. »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt«, lautet Artikel 1(1) des Grundgesetzes. Damit ist ein historisch sehr unwahrscheinliches Ideal ausgerechnet in Deutschland mit seiner totalitären Vergangenheit zum archimedischen Punkt für Politik geworden. Darin liegt eine historische Errungenschaft, die den Deutschen nach dem Desaster der Naziherrschaft durch umsichtige westliche Siegermächte und einen aus heutiger Sicht weitblickenden Parlamentarischen Rat geschenkt worden ist. Aber es kam noch besser: Das Bundesverfassungsgericht hat sich über sechs Jahrzehnte zu einer unabhängigen und starken dritten Gewalt entwickelt, die in ihren Urteilen immer wieder an den archimedischen Punkt der Politik erinnert und dafür sorgt, dass die Rede von der Würde des Menschen nicht zur hohlen Phrase wird.
Ein aktuelles Beispiel ist das Urteil über die sogenannten Regelsätze nach SGB II, die unter dem Namen »Hartz IV« traurige sozialpolitische Berühmtheit erlangt haben. Das Karlsruher Gericht hat im Februar 2010 entschieden, dass die Berechnung der Regelsätze zur Gewährleistung des Existenzminimums für
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