Baustelle Demokratie
Meinungsbildung des Volkes mitzuwirken, drohen in dieser Lage zu den großen Verlierern zu werden. Viele Wähler wandern ab, und nach wie vor gehen auch immer mehr Mitglieder für das parteipolitische Engagement verloren. In den etablierten Parteien redet man zwar über diese Phänomene. Doch anscheinend sind sie viel zu sehr mit dem Alltag der Politik beschäftigt, um die Zeichen der Zeit richtig erkennen oder die richtigen Schlüsse daraus ziehen zu können. Die bisherigen Antworten auf die Krise klingen parolenhaft und sind es auch. Losungen wie »Jetzt Geschlossenheit zeigen!« und »Nah bei den Menschen sein!« nützen wenig und verstellen den ehrlichen Blick auf eine Diagnose, der man sich nicht länger entziehen darf: Mehr und mehr Menschen haben keine Lust mehr, sich an den eingefahrenen und nicht auf Beteiligung, sondern auf Machterhalt ausgerichteten Formen der politischen Kommunikation (PR, Wahlkampf, inszenierte Parteitage, »Plastiksprache«) zu beteiligen.
Genau hier setzt die Idee von »Liquid Democracy« an. Dabei geht es nicht darum, die repräsentative Demokratie infrage zu stellen oder gar abzuschaffen. Vielmehr sollen umfassende Beteiligungsmöglichkeiten das Prinzip der Repräsentation durch direkte Mitbestimmung ergänzen. Was früher nach Utopie oder Chaos geklungen hätte, ist heute dank der technischen Potenziale des Internets möglich geworden. Das Internet und die vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten via Social Media ermöglichen ein grundsätzliches Neudenken demokratischer Prozesse. Die politische Agenda wird künftig nicht mehr von »Meinungsführern«, Parteitagen und intransparenten Gremien gesetzt, sondern von der »Weisheit der Vielen«, welche Themen erst Relevanz verleiht.
»Flüssige Demokratie« hieße, dass Bürgerinnen und Bürger nicht nur die Wahl zwischen Zustimmung und Ablehnung von Parteien, Programmen oder Personen haben; vielmehr dürfen sie bei der Themenwahl selber mitbestimmen. Außerdem dürfen sie bestimmen, bei welchen Themen sie sich vertreten lassen wollen und wo sie lieber direkt mitentscheiden wollen. Bin ich zum Beispiel als Vater direkt von schulpolitischen Entscheidungen betroffen, dann will ich bei Schulreformen, die meine Kinder betreffen, direkt gefragt werden und mitbestimmen dürfen. Ein anderer vertraut hingegen die Schulreformen den Bildungspolitikern an, möchte aber stattdessen bei der ökologischen Stadterneuerung sein Wissen und sein Engagement zum Einsatz bringen. Flüssige Demokratie bedeutet, mit den verschiedenen Anspruchsgruppen der Gesellschaft viel intensiver als bislang ins Gespräch und in neue demokratische Aushandlungsverhältnisse zu kommen. Flüssige Demokratie bedeutet, die spezifischen Kompetenzen engagierter Bürgerinnen und Bürger anzuerkennen.
Dies ist heute freilich noch Zukunftsmusik: Liquid Democracy würde von Parteien, Regierungen und Unternehmen verlangen, sich vorbehaltlos für die freie Debatte zu öffnen und auch die eigenen Machtansprüche zur Disposition zu stellen. Viel verlangt, das ist klar! Doch liegt es bereits heute in der Macht der Bürgergesellschaft, mit Hilfe von Social Media Gegenöffentlichkeiten und öffentliche Gegenströme zur Taktik von Interessengruppen und PR-Strategien zu organisieren: Die Occupy-Bewegung gegen die Macht der Banken und Finanzmärkte ist nur eines von vielen Beispielen für die Koordination von »Gegenfeuer« (Pierre Bourdieu) gegen intransparentes Handeln durch neue Beteiligungsformen. Eine ganze Generation von jungen und gut ausgebildeten Menschen bewegt sich heute schon vollkommen selbstverständlich »im Netz«, und mehr und mehr relevante Debatten spielen sich dort ab – eine gute Nachricht für die Bürgergesellschaft und die Zukunft des Engagements.
II. SEIN – Bürgergesellschaft heute
Die Analyse unserer Gegenwart macht die zentrale Bedeutung der Bürgergesellschaft für die Zukunft der sozialen Demokratie deutlich, allerdings auch ihre prekäre Lage. Zudem wird das Thema Engagement von der »großen Politik« noch immer sträflich vernachlässigt. Und es bleibt fraglich, ob sich die Bürgergesellschaft auf Dauer tatsächlich aus der feindlichen Belagerung durch ökonomische und administrative Zwänge befreien kann. Die Tendenzen einer solchen Kolonisierung sind offensichtlich:
Eine staatliche Politik , die unter dem jahrzehntelangen Einfluss marktgläubiger Ideologie mehr oder weniger freiwillig jenes »Primat der Politik« aus der Hand gegeben hat, welches
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