Baustelle Demokratie
gesellschaftlichen Großtendenzen – ein Blick auf die aktuelle Lage der Bürgergesellschaft erforderlich. Hier soll zunächst erklärt werden, was man sich unter »Bürgergesellschaft« sinnvollerweise vorstellen muss, um dann schlaglichtartig und in aller gebotenen Kürze die Situation des bürgerschaftlichen Engagements heute zu verdeutlichen.
Vielstimmiges Echo
Worüber reden wir eigentlich, wenn wir von der Bürgergesellschaft sprechen? Es gäbe gute Gründe für die Feststellung: Die Bürgergesellschaft existiert nicht! Sie ist genau so irreal wie die »Leitkultur« oder der »Bildungskanon« – beides Begriffe, denen bis heute selbst die eifrigsten Talkshow-Gäste keine klaren Konturen zu geben vermochten (vgl. zum Folgenden Embacher / Klein 2011b). Zwar streiten wir im Zusammenhang mit der Integrationsdebatte gerne über »das Deutsche« an der »deutschen Leitkultur«, doch ist es unmöglich, außer der deutschen Sprache und dem gemeinsamen Bekenntnis zum Grundgesetz Sinnvolles zur Leitkultur zu definieren. Ebenso vergeblich wird darüber gestritten, was im postbürgerlichen Zeitalter eigentlich zum Bildungskanon gehört: Zwar erfreuen sich die Versuche der Kanonbildung durch »Literaturpäpste« und weise Professoren (z.B. Schwanitz 1999) beim breiten Publikum großer Beliebtheit. Dennoch klingen alle Versuche, Bildung (nicht Aus bildung!) heute noch verbindlich definieren zu wollen, am Ende beliebig und wenig überzeugend.
Mit der »Bürgergesellschaft« verhält es sich zunächst nicht anders. Der Begriff bezeichnet alles und nichts, er taucht in jeder Sonntagsrede auf und droht stets in einer gewissen Unverbindlichkeit zu versinken. Mal wird er gleichgesetzt mit bürgerlicher Gesellschaft (daher auch der häufig zu hörende Fauxpas vom »bürgerlichen Engagement«), mal mit der ehrwürdigen Tradition des Ehrenamts im Verein und bei der Freiwilligen Feuerwehr. Andernorts steht die Bürgergesellschaft dagegen für soziale Bewegungen, Selbsthilfe- oder Verbraucherschutzorganisationen oder gar den ADAC (oder ADFC), und wieder andere verstehen unter Bürgergesellschaft schließlich die freie Wohlfahrtspflege mit ihren professionalisierten Großstrukturen. Überspitzt könnte man sagen, dass heute jeder von Bürgergesellschaft redet, der das ethisch-moralisch Ehrenwerte in der Gesellschaft thematisieren will. Bürgergesellschaft und bürgerschaftliches Engagement werden als Symbole und Platzhalter für philanthropisch motiviertes Handeln benutzt. Durch diese Einbettung in einen positiven Zusammenhang – wer wäre nicht für Empathie und Hilfsbereitschaft? – fällt es interessierten Akteuren leicht, die Bürgergesellschaft zu funktionalisieren. Keine Lobrede, in der nicht die selbstlosen »Helfer« hervorgehoben werden, kein Ministergrußwort, in dem nicht vom »sozialen Kitt« die Rede ist. Wer jedoch Engagierte auf »Helfer« reduziert, die durch ihre »Hilfe« die Gesellschaft zusammenhalten, der gesteht – meist unbewusst und implizit – ein, dass er
wenig Ahnung vom Thema hat,
die Engagierten in einer unpolitischen Rolle sehen will und
selbst offenbar nicht mehr in der Lage ist, für sozialen Zusammenhalt zu sorgen.
Und so gibt es kaum ein Politikfeld, in welchem dem Zufall von Personenkonstellationen und Förderentscheidungen so viel überlassen bleibt wie in der Engagementpolitik. Die Frage nach der Rolle und Funktion von Bürgergesellschaft und bürgerschaftlichem Engagement für die Gesamtgesellschaft in Deutschland ist heute offen wie eh und je und wird derzeit – zumindest von der Politik auf Bundesebene – nicht definiert. Dabei war schon der Enquete-Kommission des Bundestages klar, dass sich Engagementpolitik am Nutzen des Engagements für die soziale Demokratie bemessen lassen muss. Die Bürgergesellschaft leistet einen konstitutiven (also nicht irgendeinen!) Beitrag zum Funktionieren der Demokratie. Sie ist Teil jener moralischen Voraussetzungen für die freiheitliche Ordnung, die diese selber nicht zu schaffen vermag (Böckenförde 1976).
Wenn in diesem Buch von Bürgergesellschaft (oder auch Zivilgesellschaft) die Rede ist, dann ist damit ein demokratischer Aushandlungsort gemeint. Die Bürgergesellschaft ist nicht primär durch Institutionen oder Personen bestimmt. Vielmehr ist sie eine öffentliche Sphäre der modernen Gesellschaft, in der durch praktisches Handeln (bürgerschaftliches Engagement) und diskursive Beiträge (Debatten) alternative Lösungen für
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