Baustelle Demokratie
Klassikern der Kulturkritik der öffentlichen Debatte durchaus guttäte. Die Schriften von Theodor W. Adorno, Hans-Magnus Enzensberger, Oskar Negt und Alexander Kluge sind in gewisser Hinsicht aktuell wie eh und je.
Andererseits: Was nützt das Lamentieren über schlechte Talkshows, windige Moderatoren und niveaulose Debatten? Viel interessanter ist am Ende das, was die öffentliche Debatte letztlich doch ausmacht und durchdringt, nämlich das Ringen um das bessere Argument. Auch wenn Skeptiker es noch so häufig bestreiten: Es gibt ihn, den »zwanglosen Zwang des besseren Arguments«, der von Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel und anderen Vertretern einer kognitivistischen Moral beschrieben wurde. Die Idee dieser Begründung einer öffentlichen Moral ist, dass sich in Argumentationen und Diskussionen das bessere Argument durchsetzen würde, wenn die Auseinandersetzung ohne Zwang und ohne Zeitdruck und unter Berücksichtigung aller möglichen Argumente und Gesichtspunkte geführt werden würde.
Es versteht sich von selbst und ist auch nicht ausschlaggebend, dass das in der Welt, wie wir sie kennen, nicht möglich ist. Entscheidend ist vielmehr, dass Fragen der Gestaltung von Gesellschaft, Gerechtigkeit und Freiheit nicht beliebig sind. Es gibt – entgegen dem postmodernen Chic eines »Everything goes!« – Kriterien für Wahrheit und Richtigkeit, für richtige und falsche Wege der Politik, für gute und schlechte Möglichkeiten der Gestaltung von Gesellschaft. Nun ist die derzeitige Kultur der öffentlichen Debatte aber nicht so beschaffen, dass das beste Argument darin unbedingt zum Tragen käme. Dazu ist der öffentliche Raum zu sehr vermachtet. In ihm geht es in einem PR-gesteuerten Kampf meist nicht um Überzeugung, sondern um die Durchsetzung von Partikularinteressen. Weil man den zwanglosen Zwang des besseren Arguments fürchtet, muss man das, was ihm zum Durchbruch verhelfen könnte, möglichst zurückdrängen: Freier Informationsfluss, Artikulationschancen für alle, faire Bedingungen durch gleichen Zugang und »Waffengleichheit« müssen all jenen ein Dorn im Auge sein, die ihre Interessen durchsetzen wollen.
Und so leidet die Demokratie in Deutschland heute nicht – wie es gern behauptet wird – an einem Zuviel an Kanälen und Artikulationsmöglichkeiten, sondern im Gegenteil an einem Mangel an öffentlich zugänglichen Informationen und diskursiven Beteiligungsmöglichkeiten. Die tägliche Bilder- und Textflut, die in allen Medien über uns hereinbricht, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass politische und gesellschaftliche Prozesse immer noch viel zu wenig transparent sind. Wer versucht, an Akten und Informationen aus der Verwaltung zu kommen, um sich ein genaues Bild von öffentlichen Planungen und Projekten zu machen, wird trotz des relativ neuen Instruments des Informationsfreiheitsgesetzes auf jede Menge aktiven und passiven Widerstand stoßen. Und wer versucht, von Vertretern aus Politik und Wirtschaft relevante Daten und Fakten für wichtige Entscheidungen (Mittelkürzungen, Entlassungen usw.) zu erhalten, stößt auf gedrechselte Formulierungen und »Sprachregelungen«, aber nicht auf relevante Argumente, denen man die seinen entgegensetzen könnte.
Um die Qualität von öffentlichen Debatten zu erhöhen und den bürgergesellschaftlichen Akteuren eine Chance auf »Augenhöhe« mit Staat und Wirtschaft zu eröffnen, käme es darauf an, die Zahl der Kommunikationskanäle zu erhöhen, um so viele Aspekte wie möglich in eine nach den Kriterien von Transparenz und Offenheit geführte Debatte einzubringen und möglichst alle relevanten Argumente zu berücksichtigen. Öffentliche Debatten müssen an Verständigung orientiert sein, um demokratischen Ansprüchen zu genügen. Vor diesem Hintergrund bieten die neuen Informations- und Kommunikationsplattformen im Internet heute zumindest die technischen Voraussetzungen für kommunikatives Handeln in einer neuen Dimension (vgl. zum Folgenden Härtel / Embacher 2011). Die sogenannten »Social Media« sind dabei, die Kommunikationsverhältnisse zu revolutionieren. Sie erweitern durch multiple Vernetzungs- und weitgehend entgrenzte Kommunikationsmöglichkeiten die Spielräume für faire und transparente öffentliche Debatten erheblich. Social Media wie Blogs, Foren, Plattformen und Wikis hinterlassen bereits heute deutliche Spuren in der Bürgergesellschaft und im bürgerschaftlichen Engagement. Auch hier spielen sie – wenngleich die
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