Baustelle Demokratie
vor allem eine genaue normative Vorstellung seines gesellschaftlichen Orts.
Dieser Ort zeigt sich empirisch äußerst bunt und vielfältig (vgl. zum Folgenden Embacher / Lang 2008, 19ff.). Er wird gleichermaßen gestaltet von Organisationen und Engagierten, die die Welt natürlich nicht nur aus der Perspektive der Kritik besehen. Das bürgerschaftliche Engagement erfüllt häufig auch eine wichtige Komplementärfunktion für Staat und Wirtschaft. Es leistet einen gesellschaftlichen Beitrag, der die institutionellen Arrangements mit Leben erfüllt und sie zum Leuchten bringt: keine Wahl ohne ehrenamtliche Wahlhelfer, keine Fürsorge im Krankenhaus ohne »Grüne Damen« und ehrenamtliche Betreuer, kein Breitensport ohne freiwillige Trainer, Zeugwarte und Vereinsvorstände, keine Verkehrs- oder Umwelterziehung ohne engagierte Helfer, keine Integration von Zuwanderern oder sozial Schwachen ohne Nachbarschaftsheime und Migrantenorganisationen, »Stadtteilmütter« und Job-Paten. Diese Menschen und Organisationen leisten konstitutive Beiträge für das demokratische Gemeinwesen, ohne dass sie dadurch staatliches Handeln ersetzen würden. Die genannten und viele weitere bürgerschaftliche Aktivitäten erstrecken sich nämlich auf Tätigkeiten, die Staat und Wirtschaft weder leisten können noch sollen. Empirisch ist das – wie gesagt – äußerst vielfältig: Während zivilgesellschaftliche Organisationen wie Vereine und Verbände die institutionelle Struktur der Bürgergesellschaft bilden, sind die Engagierten die lebendige Seite der Bürgergesellschaft. Die Bürgergesellschaft darf weder auf die organisatorische noch auf die individuelle Seite des Engagements eingedampft werden. Letztere würde die Bürgergesellschaft auf einen bunten Strauß an Möglichkeiten individueller Entfaltung und Selbstverwirklichung reduzieren. Für die Sonntagsredner der Bürgergesellschaft wäre diese Reduktion ideal, da sie das Engagement auf das soziale Element beschränkt und ihm jegliche gesellschaftspolitische Komponente abspricht. Die organisierte Bürgergesellschaft allein betrachtet würde dagegen zivilgesellschaftliche Organisationen auf ihre funktionelle Dimension reduzieren und die Bedeutung ihrer breiten Verankerung in der Gesellschaft vernachlässigen. Ohne eine breite Basis von Unterstützern, Mitgliedern und Engagierten gäbe es zwar zivilgesellschaftliche Organisationen, aber keine Bürgergesellschaft als Sphäre der gesellschaftlichen Solidarität und der demokratischen Teilhabe. Organisierte Bürgergesellschaft und individuelles Engagement bilden die zwei Seiten einer Medaille.
Die Bürgergesellschaft ist zudem keine selbstgenügsame Sphäre. Sie kann nur richtig verstanden werden, wenn man ihren Einfluss auf die Sektoren Staat und Wirtschaft ernst nimmt. Bürgerschaftliches Engagement kann auf andere gesellschaftliche Bereiche ausstrahlen und im positiven Fall die Strukturen von Staat und Wirtschaft bei ihren administrativen und ökonomischen Routinen »stören«. Insofern das bürgerschaftliche Engagement im beschriebenen Sinn Impulsgeber auch für politische Erneuerung ist oder sein kann, hat es auch das Potenzial, zum Leitbild für die gesamte Gesellschaft zu werden (vgl. Bürsch 2006). Das bürgerschaftliche Engagement kann die Bürgergesellschaft in seinen besten Momenten zu einer revolutionären Kraft für die Weiterentwicklung der Demokratie machen.
Sie glauben, hier geht die Emphase mit dem Autor durch? Dem lässt sich entgegenhalten, dass Deutschland heute ohne bürgerschaftliches Engagement ein Atomstaat mit »autogerechten« Städten ohne Aussicht auf eine ökologische Wende wäre. Nicht nur ökologische, sondern nahezu alle sozialen und gesellschaftlichen Fortschritte der letzten Jahrzehnte verdanken sich zivilgesellschaftlichen Impulsen, die – in glücklichen Momenten der Demokratie – in Staat und Wirtschaft aufgegriffen wurden beziehungsweise aufgegriffen werden mussten und zu einem Umdenken und Umsteuern geführt haben. Bürgerschaftliches Engagement resultiert aus Prinzipien wie Selbstorganisation, Freiwilligkeit, Hierarchiefreiheit und solidarischer Eigenverantwortung. Dadurch kann es potenziell eine autonome Handlungsdynamik erzeugen, die Staat und Wirtschaft zu echten Änderungen der Verhältnisse zu bewegen vermag.
Das ist der Hintergrund für einige wenige Zahlen zur Bürgergesellschaft in Deutschland. Dabei lesen sich die empirischen Daten, die alle fünf Jahre vom sogenannten
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