Baustelle Demokratie
aber nicht den Nutzern von Strom, Wasser und Verkehrssystemen.
Selbstverständlich bleibt es auch künftig Aufgabe der Politik und des Staates (oder künftig mehr und mehr supranationaler demokratischer Organisationen), aus dieser unheilvollen Entwicklung herauszufinden. Weder höhere Eingebungen noch ein »Rat der Weisen« werden uns aus aktuellen ökonomistischen Verhärtungen befreien können. Das vermag nur demokratische Politik in Parlamenten und Regierungen. Doch wird sie aus sich heraus nicht die Kraft dazu besitzen. Einzig die Bürgergesellschaft mit ihrem praktischen Engagement und den in ihr stattfindenden Debatten vermag die nötigen Impulse zu geben, die dann auch politisches Handeln neu inspirieren können. Die Sphäre der Zivilgesellschaft ist die Sphäre der Skepsis und des Misstrauens gegenüber staatlichem Handeln. Und dies ist durchweg zu bejahen. Mit anderen Worten: Das politische Vertrauen in den Staat und sein Handeln kann nur durch ein institutionalisiertes Misstrauen gestärkt werden (vgl. dazu Cohen 2008). Nur dadurch, dass wir als engagierte Bürgerinnen und Bürger mit Hilfe von Kritik und Kommentar in der Bürgergesellschaft aktiv sind, können wir überhaupt dem politischen System und damit der Demokratie ein Grundvertrauen entgegenbringen.
Das ist die zentrale Funktion der Bürgergesellschaft: Sie bietet uns eine Freifläche für gesellschaftliches Handeln in eigener Verantwortung; sie bietet uns Raum für vorbehaltlose Debatten ohne Rücksicht auf sozialen Status, berufliche Abhängigkeiten und Systemzwänge. Ob wir diese Freifläche für eigene Projekte oder die Einmischung in gesellschaftliche Debatten, für unsere karitativen Neigungen oder das Engagement in der Selbsthilfe, für das lokale Engagement oder das Mitmischen in globalen Bewegungen nutzen, bleibt uns selbst überlassen. Bürgergesellschaft hängt mit staatsbürgerlicher Autonomie, mit Selbstbestimmung und aufgeklärter Eigenverantwortung zusammen.
Nur weil Staat und Wirtschaft immer mit dem Vorhandensein dieser autonomen Sphäre der Gesellschaft und ihrer unabhängigen Kritik rechnen müssen, sind sie überhaupt in der Lage, sich zu verändern. Mehr Gerechtigkeit in wirtschaftlichen Prozessen wird es niemals aufgrund »freiwilliger Selbstverpflichtungen« geben; mehr Transparenz und Demokratisierung im Staat und seinen Organen wird es niemals aufgrund von Absichtserklärungen der politischen Akteure selbst geben – Verbesserungen im Sinne gesellschaftlichen Fortschritts hin zu mehr Gerechtigkeit und mehr Demokratie werden immer von zivilgesellschaftlichen Impulsen ausgehen, die dann von den Akteuren im ökonomischen und politischen System aufgegriffen werden oder aufgrund des öffentlichen Drucks aufgegriffen werden müssen . Die in den letzten Monaten entstandene »Occupy-Bewegung« hat selbst keine Macht und Legitimation im offiziellen Sinne ( http://www.occupydeutschland.de ); doch sie kann über ihre Aktionen im öffentlichen Raum öffentliche Debatten entfachen oder anfeuern, die auf diese Weise eine öffentliche Legitimation erlangen, welche dann wiederum Handlungsdruck auf Politik und Wirtschaft erzeugt.
Die Bürgergesellschaft ist politisch, wie klein und lokal das in ihr stattfindende Engagement im Einzelnen auch sein mag. Alle Versuche der Politik, sie in die Abteilung für Zierrat und gesellschaftliches Ornament zu rücken, sind daher hoch problematisch. Und alle Versuche, sie für staatliche Aufgaben zu instrumentalisieren, werden ihrer zentralen Funktion im Gefüge der Demokratie nicht gerecht und schaden darüber hinaus ihrem Eigensinn. Wir müssen uns die Bürgergesellschaft als freie und unabhängige Sphäre vorstellen, wenn ihr Potenzial für Demokratie und soziale Gerechtigkeit erschlossen werden soll. Sie ist angewiesen auf verständigungsorientiertes Handeln, welches allein geeignet ist, den harten Zwängen einer bloß instrumentellen oder strategischen Rationalität zu entkommen. So besehen wird die Bürgergesellschaft tatsächlich zu einer potenziell revolutionären Instanz für die Demokratie. Der »zwanglose Zwang des besseren Arguments«, von dem oben bereits die Rede war, kann (nicht muss!) die Verhältnisse verändern. Sein Ort ist die Bürgergesellschaft. Das ist der zugegeben anspruchsvolle Hintergrund für die weiteren Betrachtungen: Wenn wir dem bürgerschaftlichen Engagement tatsächlich eine zentrale Rolle bei der Weiterentwicklung der Demokratie einräumen wollen, dann brauchen wir
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