Baustelle Demokratie
inzwischen auch von der »offiziellen« Politik erkannt. Doch spätestens hier beginnen die Probleme. Denn die Einsicht in die zentrale gesellschaftliche Funktion des bürgerschaftlichen Engagements weckt nicht zwangsläufig neue demokratische Impulse. Vielmehr hat ein intensives Nachdenken darüber begonnen, wie sich die Bürgergesellschaft für staatliche Zwecke einbinden lässt. Die äußerst problematische Tendenz einer Indienstnahme des Engagements für staatliche Zwecke ist heute zu einem gravierenden Problem geworden.
»Notnagel« Engagement
Es ist fünf vor zwölf: Bürgerschaftliches Engagement wird – ohne dass man das so offen sagen würde – in den Augen vieler »Entscheider« in der Politik mehr und mehr zum Ausfallbürgen für staatliches Handeln. Die Frage ist nicht (mehr), wie man ein solches Einspannen von Engagement für staatliche Zwecke verhindern kann. Sie lautet vielmehr, wie man diese Entwicklung in andere Bahnen lenken kann.
Schaut man sich beispielsweise den Kabinettsbeschluss der Bundesregierung zu einer nationalen Engagementstrategie vom Oktober 2010 genau an, stechen dort an zentralen Stellen Formulierungen ins Auge, die auf eine Funktionalisierung der Bürgergesellschaft für sozialstaatliche Zwecke hindeuten (vgl. BBE 2010b und Embacher / Klein 2011b). Natürlich würde man das niemals zugeben, denn mit dem Bekenntnis zur Bürgergesellschaft als bloßem »Dienstleister« für das Gemeinwesen wäre ja zugleich das Eingeständnis eines massiven Staatsversagens verbunden. Doch findet sich gleich zu Beginn der Engagementstrategie die verräterische Formulierung, gesellschaftliche »Herausforderungen«, wie demografischer Wandel, Integration, Bildung und Klimaschutz, könnten nicht mehr vom Staat allein bewältigt werden. Die gesamte Rhetorik deutet auf einen intendierten Abschied des Staates aus zentralen Handlungsfeldern hin. Die Idee einer »helfenden« Bürgergesellschaft, die einem klammen Staat unter die Arme greift, wird mit holpriger Politprosa ummantelt. Man erkennt die Absicht und ist verstimmt.
Die Frage, wie der Staat sich mit Hilfe des Engagements um soziale Aufgaben erleichtern kann, durchzieht die ganze Strategie. Das passt nur zu gut zu dem seit nunmehr 20 Jahren gebetsmühlenartig vorgetragenen Credo, der Sozialstaat der »alten« Bundesrepublik sei nicht mehr finanzierbar und somit am Ende. Diese mächtige und aufwendig inszenierte Geschichte vom Ende des Wohlfahrtsstaates wirkt bis heute als hartnäckiger Antreiber für Rückzugsgefechte. Statt einen starken und solide finanzierten Sozialstaat zu fordern, beschäftigt sich die Sozialpolitik meist mit Effizienz-, Anreiz- und Wettbewerbsfragen, kurz: mit der Verbetriebswirtschaftlichung des Sozialstaatsgedankens. Dieser Diskurs und die damit verbundenen gesetzlichen Rahmenbedingungen haben aus Wohlfahrtsorganisationen wie Caritas und AWO Konzerne gemacht – als könne das Kümmern um sozial Schwache oder Pflegebedürftige profitabel sein wie die Produktion von Autos oder Sägespänen.
Einen philosophischen Ritterschlag erfuhr der Gedanke einer Instrumentalisierung der Bürgergesellschaft für staatliche Zwecke vor einiger Zeit durch den Philosophen Peter Sloterdijk. Der Professor aus Karlsruhe überraschte mit dem Vorschlag, alle staatlichen Steuereinnahmen durch freiwillige Spenden zu ersetzen. Hier wird eine intellektuelle Abkehr von der organisierten und obligatorischen Solidarität vollzogen und damit im Grunde der soziale Konsens in Deutschland aufgekündigt. Das philanthropische »Schenken« wird von Sloterdijk in seiner finanziellen Dimension als »Geldspende« zu einem Gegenentwurf zum Sozialstaat als Steuerstaat aufgebaut. Für ihn ist Steuerzahlen »Staats-Kleptokratie« (Sloterdijk 2009), auf die ein »antifiskalischer Bürgerkrieg« (ebd.) zu Recht reagiere. An die Stelle der Steuerzahlung solle künftig das großzügige freiwillige Schenken der gesellschaftlichen Leistungsträger treten. Für Sloterdijk bereitet »jede staatliche Pflicht zur Abgabe von eigenem Reichtum dessen Besitzern nur eine Kränkung des Gefühls wohlverdienten Erfolgs […], während dessen souveräne Verausgabung bei den Mitgliedern jener Schichten eine Empfindung beglückender Großherzigkeit auslöse« (Honneth 2009). Glücklicherweise pflegt Sloterdijk seine radikalen Thesen nicht weiterzuverfolgen, sobald die damit provozierten Schlagzeilen veraltet sind.
Problematischer, weil sehr konkret und real, ist ein anderes
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