Baustelle Demokratie
der anderen Seite instrumentalisiert.
Die mit der Aufklärung verbundenen Hoffnungen, die uns seit über 200 Jahren begleiten, drohen ausgerechnet in dem Moment zu verfliegen, da die Menschheit über die Mittel zu ihrer Verwirklichung verfügt. Niemand müsste in Armut leben, die Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform könnte sich global durchsetzen, ein friedliches Miteinander von Ethnien und Religionen wäre möglich, und herrschaftsfreie Kommunikation ist medientechnisch erstmals in der Geschichte denkbar geworden. Doch was tut der Mensch als politisches Wesen? Er baut Mauern und Barrieren wie eh und je und verstellt sich durch sein perspektivlos kleinkariertes Handeln selbst den Weg in die Zukunft – die Konsequenzen seines kurzsichtigen Handelns, so hofft das Ego, werden im Zweifelsfall die anderen ausbaden.
Sollte das Projekt der Zivilisation einmal endgültig scheitern, würde der neutrale Beobachter am Ende achselzuckend resümieren: »Alles hätte so einfach sein können. Hätte man sich bei der Einrichtung der Welt an den Prinzipien von Toleranz, Empathie, Fairness, Gerechtigkeit und Zivilität orientiert – Verständigung auf der Basis wechselseitiger Akzeptanz wäre möglich gewesen. Wäre der Einzelne nur ein klein wenig von seiner egozentrischen Perspektive abgerückt – die Welt verfügte nun über ausreichend Platz und Perspektiven für alle. Hätten sich die Menschen in ihrem alltäglichen Handeln auf das besonnen, was sie wie selbstverständlich ihren Kindern beizubringen versuchten, faire Umgangsformen und kluges Handeln – es hätte alles nicht so weit kommen müssen: Nun hat der Autoritarismus die Demokratie besiegt, es gibt wenige Wohlstandsinseln und riesige Elendszonen, das Weltklima kippt …«
Noch gibt es Spielräume für kollektives Handeln gegen die Krise. Doch auch wenn die pessimistischen Szenarien eines Hoimar von Ditfurth aus den 1980er-Jahren nicht mehr en vogue sind, weil wir uns vorzugsweise in einer Welt der Euphemismen und des schönen Scheins bewegen, weniger ernst ist die Lage deshalb nicht. Die nächsten Jahrzehnte werden zeigen, in welche Richtung die Reise geht – ob die Krise der Demokratie, die Krise des Sozialen und die Krise der Ökologie bewältigt werden können.
Der vorliegende Essay plädiert energisch dafür: Es ist möglich, wenn man erstens die Lage offen und vorbehaltlos – das heißt ohne Beschönigungen und Tabus – anerkennt und beschreibt. Es ist möglich, wenn man zweitens die gesellschaftlichen Kräfte weckt, die für die nötigen Impulse zu einer Wende zum Besseren sorgen können. Und es ist drittens natürlich nur möglich, wenn man es auch für möglich hält! Es gilt Abschied zu nehmen von der heute weit verbreiteten und abgeklärten postheroischen Haltung, die so bequem ist, weil man mit ihr überall dabei sein kann, ohne für Ziele und Werte wirklich stehen und sich für ihre Verwirklichung einsetzen zu müssen.
Die gute Nachricht: Alle genannten Bedingungen für eine Wende zum Besseren – eine ehrliche Analyse des Ist-Zustands, starke Impulse für gesellschaftliche Alternativen und der Glaube an die Machbarkeit eines Wechsels (»Change«) – finden sich in der Bürgergesellschaft und im bürgerschaftlichen Engagement. Die Baustelle Demokratie wird durch bürgerschaftliches Engagement täglich bearbeitet. Die Bürgergesellschaft ist die Sphäre des Wandels zu einer Revolutionierung der Lebensverhältnisse. Freilich ist dies keine Revolution nach altem Muster – es geht nicht um Umsturz und Gewalt oder einen ominösen »Systemwechsel«. Welches System sollte – nach den schrecklichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts – dabei herauskommen? Stattdessen geht es um einen durchgreifenden Wandel zu einer neuen öffentlichen Kultur der Verständigung über die Reorganisation einer Gesellschaft »mit menschlichem Antlitz«. Es geht um das Zurückdrängen strategischer und instrumenteller Rationalität und die Etablierung verständigungsorientierten Handelns als Modus der politischen Auseinandersetzung. Es geht um die Begrenzung politischer Herrschaft und wirtschaftlicher Macht zugunsten der Lebenswelt von Menschen.
Damit sind wir bei der radikalen Utopie der Bürgergesellschaft: Sie ist diejenige Sphäre, die die gesellschaftliche Lebenswelt und die Belange der in ihr lebenden Menschen in ihr Recht zu setzen beziehungsweise einzufordern vermag. Das scheint angesichts des Kleinkleins, das wir derzeit täglich erleben,
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