Bd. 3 - Der dunkle Stern
verkrampfte sich. So wie früher, wenn sie unbemerkt das Haus verlassen wollte, stieg sie aus dem Bett, ging zum Fenster und kletterte nach draußen. Sie trug lediglich ein langes T-Shirt, und das auch nur aus Anstand. Wäre sie nicht im Haus ihres Vaters gewesen, hätte sie auch darauf verzichtet.
Der einzige Gedanke, der ihr in diesem Moment durch den Kopf ging, als sie den halben Meter ins Gras hinuntersprang, war: Was soll’s? Es ist doch nur ein Traum.
»Jackie«, wiederholte die Stimme, die Gestalt winkte sie zu sich.
Seit Jahren hatte sie nicht mehr von ihrer Mutter geträumt. Grace Laperriere war an einem Herzleiden gestorben, einige Jahre nachdem Jackie ihr Offizierspatent erhalten hatte. Grace war immer schon zerbrechlich gewesen, so wie eine edle Porzellanpuppe. Ihre Ratschläge und ihre Weisheit hatte sie stets mit sanfter Art und wohldosiert anderen mit auf den Weg gegeben. Ihr Tod war für alle in der kleinen Familie überraschend eingetreten und nur schwer zu verarbeiten gewesen. Wer ihre ruhige, zurückhaltende Art gekannt hatte, war verblüfft gewesen, in welchem Maße Grace im Haus fehlte.
»Mom«, sagte Jackie, die in der kalten Nachtluft zitterte.
»Jackie, du solltest wenigstens Schuhe tragen, sonst erkältest du dich noch.« Grace Laperriere kam ihr ein paar Schritte entgegen. Sie sah genauso aus, wie Jackie sie in Erinnerung hatte, zierlich und anmutig. »Du siehst gut aus.«
»D-danke. Was führt dich …«
»Ich war besorgt um dich, Liebes.« Grace drehte sich zur Seite und hielt die Hände vor sich gefaltet, während sie mit der Schuhspitze nach irgendetwas zu stochern schien. »Ich habe das Gefühl, dass du dich sehr verändert hast.«
»Vieles hat sich verändert, Mom. Ich … mir war nicht klar, dass du mich beobachtest.«
»Ich beobachte alles«, gab sie zurück. Blitze zuckten über die Hügelkette und tauchten die Szene in ein fremdartiges, gelblich weißes Licht. »Meistens beobachte ich deinen Dad, aber dich beobachte ich auch.«
Jackie kam einige Schritte näher. Ihre Gedanken überschlugen sich und kehrten immer wieder zu der Frage zurück: Ist das wirklich ein Traum? Die Erde unter ihren Füßen fühlte sich feucht und kalt an, die Luft war frisch und beißend.
»Ich glaube«, fuhr ihre Mutter fort, »du bist zu weit gegangen, Liebes. Du warst schon immer ein rastloser Mensch, und du warst lange Zeit fort.«
»Meine Karriere hat verhindert, dass ich zurückkehre.«
»Das war immer so«, antwortete Grace, fast gleichzeitig hallte ein Donner über das Land. »Sogar als du gebraucht wurdest. Sogar als ich starb.«
Ein eisiger Windhauch bewegte die Grashalme. Grace Laperrieres trauriger Gesichtsausdruck war aus zehn Metern Entfernung klar und deutlich zu erkennen.
»Was sagst du da?« Jackie spürte, wie sie die Fäuste ballte, doch den Blick konnte sie nicht abwenden.
»Es ist Zeit, dass du nach Hause kommst«, sagte Grace und streckte die Arme aus. In einem Auge schien sich eine Träne zu bilden.
Jackie konnte nicht wegsehen, und in einem Winkel ihres Verstands erfasste sie, dass es ihr tatsächlich nicht möglich war. Die Berge, die Blitze, sogar die Regenschirmbäume, die den Garten säumten, waren immer schwieriger wahrzunehmen, so sehr konzentrierte sie sich auf ihre Mutter, die näher kam und nur noch wenige Meter entfernt war. Fast wie von einem fremden Willen getrieben, machte Jackie ein paar Schritte nach vorn, wobei sie das nasse Gras unter ihren bloßen Füßen spürte. Die Gestalt vor ihr lächelte so breit, dass ihre Zähne zu sehen waren …
Ein weiterer Donnerschlag ließ die Luft zittern. Ohne erkennbaren Grund legte Jackie auf einmal wie von selbst die Hände aneinander, und im nächsten Augenblick schien das gyaryu zwischen ihnen zu materialisieren. Um sie herum entstanden elf Bilder, die wie durch einen Nebel zu sehen waren. Sie erkannte Sergei, Marais und Kale’e – den letzten Zor, der das Schwert getragen hatte. Die anderen Bilder, die sie sehen konnte, mussten die Zor darstellen, die davor Gyaryu’har gewesen waren.
Das Bild ihrer Mutter begann sich so zu verändern, wie sich eine Schlange häutete. Die Arme hielten nun ein Schwert, das zischte und knurrte. Jackie schauderte. Aus den Schultern der Gestalt wuchsen Flügel, und aus dem Gesicht ihrer Mutter wurde eines, das sie mindestens genauso gut kannte.
Sofort wich sie einige Schritte zurück, konnte aber nach wie vor den Blick kaum von ihrem Gegenüber abwenden, während ihre
Weitere Kostenlose Bücher