BE (German Edition)
Christiane. Da wusste ich dann, dass ich wahrscheinlich Christiane spielen würde.
Natja Brunckhorst war gecastet für die Hauptrolle, doch wirklich sicher war man sich ihrer noch nicht. Die Dreharbeiten begannen zwar, aber es gab immer noch Überlegungen, sie durch eine andere Darstellerin zu ersetzen. Uli und Bernd wollten die Muster der ersten Woche abwarten, um sich dann endgültig auf Natja einzulassen. Nicht nur, dass sie sehr jung war, sie lispelte auch leicht. Laut Bernd muss Natja unbewusst gespürt haben, dass immer noch ein Fragezeichen über ihr hing. Sie war gehemmt und ging nicht wirklich aus sich heraus. Sie fuhr mit angezogener Handbremse. Die erste Drehwoche war miserabel. Es gab daraufhin eine Krisensitzung, bei der Bernd wieder darauf bestand, dass Natja Brunckhorst die Rolle spielen sollte. Nachdem diese endgültige Entscheidung einmal getroff en worden war, schien es, als ob ein Schalter umgelegt worden sei. Natja Brunckhorst war wie ausgewechselt, und die erste Drehwoche wurde noch einmal komplett wiederholt.
Natja, die Szenen in »Christiane F.« sind ja harter Tobak — wie war das für dich als 13-Jährige, Szenen am Straßenstrich oder beim Heroindrücken zu drehen?
NB: Ich habe in Vorbereitung auf unser Gespräch noch einmal darüber nachgedacht … der Dreh, am Filmset zu sein – das war für mich der Himmel auf Erden. Weißt du, ich war sehr sehr einsam. Ich war ein wirklich einsames Kind. Und dann gerätst du in eine Situation, wo du plötzlich etwas wert bist. Wo du Lob bekommst. Wo plötzlich jemand da ist, der sich um dich kümmert. Ich hatte auch einen Sozialbetreuer, den habe ich immer losgeschickt, mitten in der Nacht am Bahnhof Zoo, damit er mir einen Kakao mit Sahne holt. Also, das habe ich voll ausgekostet, dass sich da plötzlich Menschen um mich gekümmert haben. Das hat alles großen Spaß gemacht.
Bernd meinte, vor der Sexszene seien alle sehr besorgt gewesen, weil du ja damals noch nie einen Jungen geküsst hattest.
NB: Geküsst hatte ich schon, das wusste Bernd nur nicht. Aber ich hatte noch keinen Sex gehabt. Und vor allem hatte ich noch keinen Busen. Also, das war ja auch so ein Thema, dass mein Körper noch gar nicht entwickelt war. Mich hat das allerdings gar nicht gestört, die Sexualität zu spielen. Ich fand den Drehtag eher schwierig, weil ihn alle anderen so schwierig fanden. Als ich den Entzug spielen musste, waren alle ganz normal. Aber als dann die Sexszene auf dem Plan stand, haben alle nur geflüstert. Als ich dann ans Set kam, wurden alle erst einmal rausgeschickt, und ich dachte: Was habt ihr denn? Was ist denn jetzt die Schwierigkeit? Ich war ja eher off en erzogen worden und hatte überhaupt kein Problem damit. Aber Th omas und ich saßen dann mit Uli am Set und der meinte: »Also, wir machen jetzt die Beischlafszene …« Und ich so »Beischlaf? Ist das jetzt das bayerische Wort für Sex?«
Aber diese ganzen anderen, sehr extremen Szenen … wie war das?
NB: Das war für mich der größte Spaß. Je extremer desto besser. Besonders die Entzugsszene habe ich sehr genossen. Das kam auch durch meinen familiären Hintergrund. Meine Mutter war ja nie da und mein Vater viel unterwegs und immer sehr beschäftigt. Die einzige Möglichkeit, um Kontakt zu meinem Vater herzustellen, war krank zu spielen. Z.B. wurde mir völlig unnötigerweise der Blinddarm herausgenommen, weil ich denen Schmerzen vorgespielt hatte. Deswegen war die Schauspielerei für mich nichts anderes, als weiterhin krank zu spielen. Besonders die Entzugsszene: Du zitterst, du kotzt. Das hatte ich ja alles schon im Programm. Deswegen war das eher ein Spaß für mich. Auch die Szene, in der ich einen Freier auspeitsche … das war einfach nur spielen. Ich war ein kleines verspieltes Kind, das endlich einmal alles rauslassen durfte, was es schon immer mal rauslassen wollte.
Die jungen Darsteller wurden während des Drehs auch vor vielen Dingen beschützt. Beispielsweise sollte eine Szene in einer öff entlichen Toilette an der S-Bahnstation »Bülowbogen« gedreht werden. Als das Filmteam früh am Morgen dort aufkreuzte und die Toilette betrat, lag dort ein Drogentoter, der an einer Überdosis Heroin gestorben war. Die Realität, auf der die Geschichte von »Christiane F.« beruhte, war nie näher als an diesem Morgen. Die Leiche wurde von der Polizei abgeholt und die Toilette für die Szene hergerichtet, also blitzblank geputzt und dann mit künstlichem Schmutz wieder dreckig
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