Beast
jetzt unwichtig.
»Ich bin dir ein paarmal nachgegangen. Ich wusste, dass du hier irgendwas versteckst. Ich wusste, dass es |188| groß ist und in dem Becken wohnt. Ich hab gelauscht, als du mit deinem Dad telefoniert hast, und bin dir letzte Woche gefolgt. Ich hab gesehen, wie es ausgebrochen ist.«
Offenbar ist sie auf ihrem verdammten Roller hergefahren.
Ich bin sprachlos. Jetzt ist alles aus. Aber im Grunde meines Herzens bin ich auch wieder nicht überrascht. Carol ist die hinterhältigste Person, die ich kenne.
»Ich find’s echt unglaublich«, sagt sie. »Aber jetzt wär’s mir lieber, ich hätte jemandem davon erzählt.«
»Hast du mich deswegen das mit den Alligatoren gefragt?«
Sie lächelt verschmitzt. »Da hast du die Krise gekriegt, was?«
Ich hätte besser aufpassen sollen. Inzwischen ist es so hell, dass ich das Huhn im Käfig erkennen kann. Es liegt reglos im Matsch. Ob es noch lebt? Wenn es doch bloß aufwachen und rumflattern würde. Das würde ihn ablenken!
Carol setzt sich bequemer hin und bohrt mir dabei den Ellbogen in die Rippen.
»Ich dachte mir, solange du wegen dem Gemeindezentrum die Klappe hältst, verpetze ich dich auch nicht. Ich hatte den Eindruck, du hast die Sache im Griff.«
»Na ja.« Nicht zu fassen, dass wir auf einem Baum sitzen und uns darüber unterhalten.
Am Horizont zeichnet sich ein schmaler rosa Streifen ab.
»Wer ist Selby, Stephen?«
|189| Kurzes Schweigen. »Mein Bruder. Er ist tot.«
»Oh.«
Dann schweigen wir beide eine ganze Weile.
Ich glaube nicht, dass ich einschlafe, dafür habe ich viel zu viel Angst, ich könnte runterfallen, aber irgendwie ist es hell geworden und ich muss dringend pinkeln. Carol hat die Arme um den Stamm geschlungen und macht keinen Mucks.
Ich schaue nach unten. Ich sehe ihn nirgends. Ist er weg? Hoffnungsvoll spähe ich zum Frettchenkäfig hinüber, aber der ist leer, bis auf das Huhn, das nicht nur wieder zum Leben erwacht ist, sondern es auch geschafft hat, sich die Schnur von den Beinen zu streifen. Jetzt pickt es im seichten Wasser herum. Aber wo ist mein Monster?
Auch von Dad ist nichts zu sehen. In meinem Magen rumort ein dicker Kloß. Immer der Reihe nach, beschwichtige ich mich selbst. Dad kann warten.
»Wach auf, Carol.« Ich stupse sie an und muss sie festhalten, damit sie nicht aus der Astgabel kippt.
»Was?« Sie ist ganz verwirrt.
Ich betrachte den See, das Gebüsch, den Kiesstreifen und die Wiese hinter den Bäumen.
Er ist weg.
Wenn ich noch länger hier oben bleibe, pinkle ich mir vor Carols Augen in die Hose. Ich klettere vom Baum. Ich bin ganz steif, mir tut alles weh. Mein Steißbein schmerzt höllisch.
Die Erde ist weich und feucht. Ich schaue zu Carol |190| hoch, die erst mal abwartet, ob ich gefressen werde, bevor sie hinterherkommt.
»Was ist das?«
Im Brombeergestrüpp vor mir raschelt es. Ein Kaninchen hoppelt über die Wiese. Als ich mich wieder eingekriegt habe, überlege ich, was ich jetzt machen soll. Ich weiß nicht, wie ich mich Carol gegenüber verhalten soll. Komisch, da haben wir uns stundenlang in einer Astgabel aneinandergedrängt, und jetzt können wir einander nicht mal ansehen.
»Und«, fragt Carol, »was jetzt?«
Ich bin verblüfft. Sie lässt mir eine Wahl? Ich war felsenfest davon überzeugt, dass sie sofort zur Polizei rennt.
»Keine Ahnung.«
Sie schaut sich gründlich um. »Wie’s aussieht, willst du das Vieh einfangen und irgendwo hinbringen. Nach Birmingham, hab ich recht?«
Sie hat mich tatsächlich beim Telefonieren belauscht.
Ich nicke.
»Und niemand soll erfahren, dass du es die ganze Zeit hier gehalten hast.«
»Stimmt.« Sie hat mich in der Hand.
»Dann müssen wir den Käfig bis heute Abend irgendwo verstecken.«
Mir bleibt die Spucke weg.
»Hier läuft ein vier Meter langes Menschenfresserkrokodil frei herum, Carol! Es will uns töten. Es tötet alles, was ihm in die Quere kommt.«
»Ich weiß.« Sie sieht müde aus, aber ihre Augen leuchten.
|191| Wieso hat sie keine Angst? Sie sieht fast belustigt aus.
»Ich helfe dir. Uns fällt schon was ein.«
»Du spinnst.«
Mir reicht es endgültig. Ich bin entschlossen, von der nächsten Telefonzelle aus die Polizei anzurufen. Anschließend bringe ich Eric den Laster zurück. Es ist mir egal, was danach mit mir passiert. Ich kann nicht mehr.
Aber Carol bequatscht mich, dass wir den Käfig zu zweit aus dem Wasser hieven. Als er auf dem Trockenen ist, gehe ich rein und scheuche das Huhn raus. Es flattert
Weitere Kostenlose Bücher