Beast
oben kriegt er uns nicht zu fassen, außer er kann tatsächlich auf Bäume klettern.
Er wartet.
Ich schlage die Augen auf. Ich weiß nicht, wie lange sie zu waren, aber es kommt mir vor, als ob ich schon stundenlang auf das Schnaufen, Knurren und Knacken unter mir lausche. Ich hocke mit hochgezogenen Beinen in einer |185| Astgabel. Hier kann mir nichts passieren. Er springt zu, schnellt in die Höhe. Ich höre seine Kiefer aufeinanderschlagen, wenn er das Maul zuklappt. Ich spüre den Luftzug.
Aber er hat mich nicht gekriegt. Noch nicht.
Ich höre Carol atmen. Sie hockt weiter oben, ihre Füße streifen fast meinen Kopf. Sie schweigt.
Ich zwinge mich hinunterzuschauen. Er kriecht um den Baum herum, dann liegt er wieder ganz still, dann kriecht er weiter. Er bewacht den Baum. Wir sitzen in der Falle. Wenn ich doch bloß eine Knarre hätte!
»O Gott.«
Ich überwinde mich, das Krokodil aus den Augen zu lassen und zu Carol hochzuschauen. Ihr Fuß baumelt in der Luft.
»Alles klar?« Meine Stimme klingt ganz fremd. Brummig und heiser wie die von Dad.
»Nein«, sagt Carol, fängt an zu husten und schluchzt schließlich. Sie verlagert ihr Gewicht und der ganze Baum schwankt. Ich klammere mich an den Stamm. In meinen Ohren rauscht es und mir ist schwindlig, als ob ich besoffen wäre. Gleich falle ich runter. Meine Hände rutschen ab. Die grausamen Kiefer zerfetzen mich. Das war’s dann. So ist das also.
»Selby«, flüstere ich.
Ich ändere meinen Griff um den Stamm, um mich besser festzuhalten. Es ist wie beim Achterbahnfahren, wo man auch denkt, man rutscht gleich aus dem Gurt. Ich sehe zu Carol hoch. Hinter ihrem Umriss wird der Himmel heller.
|186| »Ich hab noch ein bisschen Schokolade«, sagt sie leise.
Aber um die zu nehmen, müsste ich den Stamm mit einer Hand loslassen.
»Glaubst du, wir sind hier oben in Sicherheit?« Carol reicht mir ein Stück Schokolade runter. Ich lasse es fallen. Einen schwindligen Augenblick lang bilde ich mir ein hinterherzufallen.
»Wenn es fünf Uhr ist, rufe ich um Hilfe«, sagt sie. »Vielleicht ist dann schon irgendein Bauer wach oder sonst irgendwer.«
»Nein«, flüstere ich. »Er bringt jeden um, der kommt.«
Wir schweigen wieder und das Krokodil schleicht weiter um den Baum herum. Ich bilde mir ein, es riechen zu können, ein saurer, strenger Geruch, wie ranziges Öl oder Blut. Ich höre es schnaufen. Es klingt wie ein undichter Autoreifen.
Carol gibt mir noch einen Riegel Schokolade. Diesmal lasse ich ihn nicht fallen und der cremige, süße Geschmack verteilt sich auf meiner Zunge. Ich wackle mit den Fingern, um zu sehen, ob sie mir noch gehorchen. Es klappt. Mein Kopf wird klarer. Ich falle nicht herunter.
Offenbar war ich schon fast eingedöst, als ich unten am Baum gelehnt habe. Wenn Carol nicht gekommen wäre, wäre ich jetzt tot.
»Mir ist kalt«, sagt sie. »Ist bei dir noch Platz?«
Ich kann mich nicht bewegen, sonst falle ich. Aber sie lässt sich schon von ihrem Ast herunter. Ihr Fuß tastet umher, darum greife ich nach ihrem Knöchel und setze ihren Fuß auf einen Ast. Sie lässt sich langsam herunter und zwängt sich neben mich.
|187| »So ist es besser«, sagt sie. Sie sitzt so dicht neben mir, dass mich ihre Haare an der Nase kitzeln. Ihr Haar duftet nach Shampoo. Ich spüre, wie warm sie ist.
Wir hocken schweigend nebeneinander und beobachten das Krokodil, das wiederum uns beobachtet. Er liegt jetzt flach auf dem Bauch, rührt sich nicht und gibt auch keinen Laut mehr von sich. Vielleicht denkt er, er kann uns reinlegen und wir glauben, er ist weg. Mir wäre es lieber, wenn er rumlaufen würde. Jetzt, wo er sich nicht mehr bewegt, habe ich keine Ahnung, was er als Nächstes vorhat.
»Sie jagen nachts«, sage ich. »Vielleicht verzieht er sich, wenn es hell wird.«
Carol ist still geworden. Du fasst dir bestimmt an den Kopf, aber erst jetzt, wo es allmählich hell wird und sie sich an mich schmiegt, wundere ich mich, was sie eigentlich hier zu suchen hat.
Ich hole Luft und will sie fragen, da fängt sie von selber damit an.
»Ich weiß schon lange, dass du irgendwas verheimlichst.« Ihre Stimme klingt fast wieder wie sonst, bloß ein bisschen krächzig. »Nach der Sache mit dem Schwein. Ich hab dir nicht abgenommen, dass es für deinen Dad ist.«
Ich muss schlucken. Dad. Ich habe niemanden schreien gehört. Vielleicht ist er davongekommen. Vielleicht hat er sich längst aus dem Staub gemacht und mich hier sitzen lassen. Aber das ist
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