Beautiful Americans - 01 - Paris wir kommen
bis meine Familie und Vince heimgefahren sind, kann ich auch das Geheimnis bewahren, das mir gerade langsam klar wird. Zack ist bis über beide Ohren in Jay verliebt.
Ich schüttle den Kopf. Ob es in Paris wohl immer so verrückt zugeht? Wird es sich hier immer so anfühlen wie in einem großen, außergewöhnlichen Ballett, in dem in jedem einzelnen Augenblick die unterschiedlichsten Emotionen im Wettstreit liegen?
Mein Lächeln erstirbt. Wir müssen PJ unbedingt finden. Auch sie könnte ein bisschen Liebe und Zuwendung gut gebrauchen, egal wie kitschig das jetzt klingen mag.
Sobald meine Eltern im Flieger sitzen, verspreche ich mir selbst, werden wir dafür sorgen, dass sie weiß, wie viel Unterstützung sie hier hat. Sie kann nicht weit gekommen sein. Oder?
27. PJ
Die Flucht
Olivia wäre sicher schnurstracks zu Mme. Cuchon gerannt, wenn ich mitten in der Nacht vor ihrer Tür gestanden hätte. Zack hätte, sobald die Sonne aufging, alles brühwarm weitererzählt, vielleicht sogar Mme. Cuchon selbst, und Alex... na ja, wir alle kennen Alex. Ob sie mich wirklich mit offenen Armen empfangen hätte?
Ich habe auch an Sara-Louise und Anouk gedacht, und an Mary. Nicht zum ersten Mal wünschte ich mir, dass ich mich mit ein paar französischen Schülern am Lycee angefreundet hätte. Vielleicht wäre einer von ihnen in der Lage gewesen, mein Geheimnis für sich zu behalten. Denn die amerikanischen Schüler werden irgendwann auspacken müssen, was sie über meinen Aufenthaltsort wissen; ihnen zuliebe habe ich mich entschieden, lieber nichts zu sagen.
Das Letzte, was ich wollte, war noch ein Skandal. Wenn ich irgendjemandem erzählt hätte, was M. Marquet getan, wie er sich verhalten hat, als ich mit ihm allein im Zimmer war, würde er vielleicht seine Drohung wahrmachen, mich wieder nach Vermont schicken zu lassen. Vielleicht würde es ja sogar in die Zeitungen kommen. Ein neu gewählter Magistrat mit einer ehrgeizigen Frau und hohen politischen Zielen ... L'Express hätte seine Freude gehabt. Einmal aus Frankreich ausgestoßen, wohin sollte ich gehen? Nach Hause? Zu den Außenseitern, den Geächteten aus unserer Stadt? Das Mädchen mit der verschwundenen Schwester und den Eltern, die hinter Schloss und Riegel sitzen, das sich für immer in der Schande ihrer Familie suhlen muss?
Pas de chance - no way!
Mitten im Gare du Nord hängt eine riesengroße Anschlagtafel mit den Zügen, die heute fahren. Alle paar Minuten klackern die Zahlen und Buchstaben, wenn der Fahrplan aktualisiert wird. Der Bahnhof muss fünf Stockwerke hoch sein und ist nur gerade so weit überdacht, dass die Zuggleise und der Wartebereich vor Schnee und Regen geschützt sind. Hier drin ist es genauso kalt wie draußen. Tauben fliegen herum und ungefähr ein Dutzend Verkaufsbuden Stehen verteilt in der Halle, verkaufen Baguettes und Zigaretten und Zeitschriften. Der Bahnhof wirkt so altmodisch wie aus einem Schwarz-Weiß-Film. So früh am Weihnachtsmorgen ist es hier wie ausgestorben.
Ich halte meinen Pass fest in den Händen. FLETCHER, PENELOPE JANE steht darauf. Innen sieht man ein lächelndes Porträtfoto. Als das Bild aufgenommen wurde, war es das erste Mal, dass ich überhaupt einen Pass benötigte. Mein Dad brachte mich mit seinem Truck zu Kinko's in Burlington und blätterte fünfzig Dollar für ein halbes Dutzend Bildersätze hin. Wir brauchten sie für den Pass, für das Visum und für den Schülerausweis des Lycees. Als wir heimkamen und alle Fotos meiner Mom zeigten, konnte sie sich nicht entscheiden, welches das schönste sei.
»Meine Mädchen sind die hübschesten der ganzen Stadt«, sagte mein Dad stolz. »Sie sehen genauso aus wie ihre Mom.« Da küsste ihn meine Mom auf die Wange und sah ihn verliebt an, wie so oft. Es war Frühling, bis zu den Sommerferien war es noch eine Weile hin. Annabel und Dave spielten wahrscheinlich wie immer auf der Veranda Gitarre. Wenn ich mich sehr konzentriere, kann ich noch immer hören, wie sie den alten Campingsong übten. Meine Mom und ich standen in der beengten Küche, wo Körbe mit Erdbeeren in der Spüle gewaschen werden sollten. Ich musste mir wegen nichts Sorgen machen. Im Herbst würde ich nach Frankreich gehen, ich hatte Eltern, die mich liebten und die einander liebten. Meine Schwester und ihr Freund, den ich schon mochte, seit wir alle Kinder waren, würden am 4. Juli heiraten. Mit Annabels Auszug würde ich dann ein eigenes Zimmer haben, ganz für mich allein.
Als meine Welt
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