Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe
Die A10 hinter mir ist belebt und laut, und ich muss regelrecht schreien, um mir Gehör zu verschaffen.
»Ich dachte, du bist eine gute Autofahrerin!« Ich baue mich direkt vor ihr auf. Alex bindet immer wieder ihren pinkfarbenen Schal auf und zu, dabei zittern ihre Hände. »Was sollte das denn? Da kann ja meine siebenjährige Schwester besser fahren! Sogar mein Hund könnte besser fahren. Ich würde echt gern mal mit dem Hirni reden, der dir den Führerschein ausgestellt hat. Nennt man das in New York etwa Auto fahren? Wenn man seine Freunde umbringt, während man gleichzeitig ausprobiert, wie lange man es schafft, Auto zu fahren, ohne aufmerksam zu sein?«
Geschockt merke ich, dass ich so laut flenne wie ein Baby. Ich bin so gottfroh, noch am Leben zu sein, dass meine groben Worte zusammen mit einer wahren Sturzflut an Tränen und Schluchzern rauskommen.
Lass das bitte nicht Jay sehen, bete ich innerlich, während ich mit aller Macht versuche, die Tränen zu unterdrücken.
»Sag mal, Alex«, fahre ich kurz darauf etwas ruhiger fort, während hinter uns auf der Autobahn Laster vorbeidonnern. »Wie lang genau hast du deinen Führerschein schon?«
Alex bläst die Wangen auf und denkt nach. Es dauert eine ganze Weile, bis sie antwortet. Zuerst kann ich sie nicht verstehen, weil sie so leise spricht.
»Was?«, brülle ich.
»Ich hab gesagt, ich habe ihn noch gar nicht«, bricht es aus
Alex raus. »Okay? Bist du jetzt zufrieden? Ich habe noch gar keinen Führerschein.«
»Mein Gott, Alex!« Ich kann es nicht fassen. Also echt. Das glaube ich einfach nicht. So dumm kann sie doch gar nicht sein! Das ist einfach unmöglich.
»Aber erzähl das bitte nicht Jay«, fleht sie mich an. »Er wäre bestimmt angepisst. Und ich bin echt eine gute Autofahrerin. Emily lässt mich wirklich dauernd fahren.«
»Deine Cousine lässt dich ihren Acura ohne Führerschein fahren?« Ich bin noch immer geschockt.
»Es ist nur ein 2005er.« Sie schnieft.
Jay öffnet die Beifahrertür und ruft uns zu, dass wir endlich weiterfahren sollen.
»Okay, Zack, du kommst nach vorne«, weist Jay an. »Alex, du fährst nicht mehr.«
Na allerdings nicht. Nach dieser Nahtoderfahrung würde ich mal sagen, dass man Alex nicht nur bis in alle Ewigkeiten jegliche Fahrmöglichkeit entziehen sollte, sondern dass man sie auch beim französischen Straßenverkehrsamt erfassen sollte, weil sie leichtsinnig amerikanische Schüler in deren Auslandsjahr in Gefahr gebracht hat (und dazu vielleicht noch ein paar französische Lkw-Fahrer!).
Als meine Hände nicht mehr zittern, schreibe ich Pierson eine SMS zurück.
Denke gerade ernsthaft drüber nach, ob zu viel Wellness 17-Jährige zu Soziopathinnen macht. Alex hat uns gerade fast gekillt. Aber ihre Frisur sitzt noch immer perfekt. Erklärung folgt.
Die nächsten Stunden legen wir schweigend zurück. Endlich kann man auf den Schildern lesen, dass es bis Montauban nicht mehr weit ist. Nach ungefähr 120 Kilometern fährt Jay auf einen Lkw-Rastplatz. Schnell und wortlos essen wir belegte Thunfisch-Sandwiches. Sobald wir wieder auf der A10 sind, strecke ich meine Hand nach hinten aus und ergreife die von Alex. Sie hält meine Hand die ganze Zeit bis nach Montauban fest gedrückt. Und ich erwidere ihren Händedruck verzeihend.
5 · PJ
Schwestern der Nacht
Ich wusste ja schon immer, dass die Stunde vor Sonnenaufgang die kälteste der ganzen Nacht ist, aber bis jetzt habe ich noch nie wirklich darüber nachgedacht. Als ich in meiner kleinen Ecke vom Gournay-en-Bray-Bahnhof kauere und mein Atem in weißen Wölkchen in den leeren mondbeschienenen Raum vor mir aufsteigt, glaube ich zu wissen, warum. Das ist die Stunde des Tages, in der die Erde am längsten die Sonnenstrahlen entbehren muss. Der Erdboden verliert seine Wärme und die Gebäude kühlen langsam aus. Aber in ein paar Stunden kommt ja das Bahnpersonal und nimmt den Bahnhof wieder in Betrieb. Sie werden die Heizung und die Lichter anschalten. Dann kann ich in den nächsten, den nächstbesten, Zug nach Rouen springen - und meine lange, einsame, eiskalte Nacht in Gournay-en-Bray hinter mir lassen. Für immer.
Als ich die Augen schließe, sehe ich sie vor mir.
Annabel kommt auf mich zugerannt. Ihre Haut leuchtet, auch wenn es hier nicht wirklich Licht gibt. Ihre dunklen Haare sind an einigen Stellen bernsteinfarben aufgehellt, wie immer im Sommer. In den Armen hält sie eine Steppdecke. Es ist eine von denen, die meine Mom aus unseren Babykleidern
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