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Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe

Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe

Titel: Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Silag
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genäht hat. Um genau zu sein hat meine Mom zwei Stück genäht. Die, die sie mir geschenkt hat, liegt in meinem Zimmer im Pariser Stadthaus der Marquets auf dem Bett. Ich hatte keine Zeit, sie mitzunehmen, als ich weggerannt bin. Aber als ich Annabel sehe, irgendwo zwischen Träumen und Wachen, bringt sie sie mir. Sie wird mich darin einwickeln und mich dann an einen warmen Ort führen. Allein ihr Lächeln könnte das Eis auf dem Bahnhofsdach zum Schmelzen bringen.
    Doch dann sehe ich auch M. Marquet. Er sitzt auf meinem Bett, hat seinen kräftigen Körper bequem auf meiner Steppdecke ausgestreckt. Er atmet schwer und seine Whiskeyfahne lässt mir meine Nackenhaare sträuben. Er greift nach mir. Ich hocke in der Bahnhofsecke und weiß, dass ich ihm nicht entkommen kann. Ich sitze in der Falle. Wenn Annabel nicht vor ihm hier ist, wird er mich zu fassen bekommen. Er wird mir wehtun. Hinter dieser direkten Bedrohung liegt die Übelkeit erregende, nagende Erkenntnis, dass er und seine Frau mein Geheimnis kennen. Sie werden mich nicht beschützen. Sie wissen, dass meine Eltern im Gefängnis sitzen und dort vermutlich auch noch lange bleiben werden.
    Alle paar Minuten zwinge ich mich, wach zu werden. Draußen wird es bestimmt bald hell. Wenn es so weit ist, muss ich wieder auf die Toilette zurück, bis der Bahnhof in Betrieb genommen ist. Die Wachleute dürfen mich nicht sehen, dürfen nicht merken, dass ich hier geschlafen habe. Sobald genügend Menschen herumwuseln, damit ich in der Menge untertauchen kann, komme ich dann wieder aus der Toilette. Ich werde in den Nahverkehrszug nach Rouen einsteigen. Auch wenn es noch einen Tag oder eine weitere Woche dauert - ich werde an mein Ziel gelangen. Ich kann es schaffen.
    Wieder fallen mir die Augen zu. Meine Lider sind so schwer, dass das einfach guttut. Ich träume vom Claude-Monet-Raum im Louvre. Diesmal halten Jay und ich Händchen, als wir uns all die Bilder anschauen. Er dreht sich strahlend zu mir um - vielleicht werden wir uns jetzt gleich küssen, wenn ich ihm meinen Kopf nur ein kleInès bisschen entgegenstrecke und seitlich neige ...
    »Mademoiselle!« Ich wache auf, als ein Bahnhofsmitarbeiter mich heftig schüttelt. »Réveillez-vous! Wachen Sie auf. Qu'est-ce qui se passe?« Der Wartebereich, in dem ich die Nacht verbracht habe, ist von hellem Sonnenlicht durchflutet. Es muss mindestens sieben Uhr sein. Es laufen sogar schon ein paar Reisende herum.
    Ich schlucke schwer und blicke die vor mir stehenden Gestalten an.
    »Je suis très desolée «, murmle ich. »Entschuldigung.« Ohne Schlaf war ich noch nie besonders schlagfertig.
    Alle, die zu dieser frühen Uhrzeit bereits am Bahnhof arbeiten, stehen um mich herum. Eine Frau hat ihr Handy gezückt und ruft anscheinend die Polizei. Die glauben bestimmt, dass ich eine schmutzige obdachlose Ausreißerin bin, die man nach Hause bringen muss. Instinktiv drücke ich meine Jacke an die Brust.
    »Bleib, wo du bist«, bellt mich einer der männlichen Bahnhofsmitarbeiter an, als ich versuche, auf die Füße zu kommen. »Du steckst in großen Schwierigkeiten.«
    Ich beiße mir auf die Lippe und reiße die Augen auf. Ob er vielleicht Mitleid mit mir bekommt, wenn ich so unschuldig wie möglich aussehe?
    »Je dois aller aux toilettes«, erkläre ich kleinlaut.
    Der Mitarbeiter schüttelt den Kopf. »Die Toilette muss noch warten, bis die Polizei da ist.«
    Eine andere Mitarbeiterin schnalzt mit der Zunge. Sie wendet sich leise auf Französisch an ihn. »Et si eile a ses règles?«
    »Oui, oui«, sage ich schnell. Ich setze eine Miene auf, als wäre ich schrecklich verlegen, was ich ja wirklich bin, aber nicht weil sie denkt, dass ich vielleicht meine Periode habe. Auch die übrigen Umstehenden wenden sich von mir ab.
    Die weibliche Mitarbeiterin zieht mich mit festem Griff vom Boden hoch und führt mich zur Toilette. Aus meiner Kabine heraus kann ich sie an der Tür stehen sehen. Sie passt auf, dass ich nicht ausbüxe. Für ihr Mitgefühl bin ich ihr zwar dankbar, aber es geht vermutlich nicht so weit, dass sie mir dabei helfen würde, aus dem Fenster zu steigen.
    Während ich auf dem Klo sitze, wühle ich hörbar in meinem Mantel herum, damit es so klingt, als würde ich ein Tampon suchen. In Wirklichkeit ziehe ich aber alle meine Ausweispapiere raus - meinen Führerschein aus Vermont, den Schülerausweis aus dem Lycée, meine Social-Security-Card - und lege sie geräuschlos in die Kloschüssel. Hoffentlich werden sie ganz

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