Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe
hämmernden Kopfschmerzen und die Übelkeit erregenden Schwindelgefühle der Grippe, wie sie es genießt, sich um mich zu kümmern und wieder die große Schwester zu spielen. Das hat sie schon immer gern getan.
Mehrere Male wache ich auf und weiß nicht, wo ich bin. Immer wenn Annabel merkt, dass ich mich bewege, steht sie sofort am Bett und fragt mich, ob ich irgendetwas brauche. Aber selbst wenn ich verneine, verschwindet sie manchmal in der Küche und wirbelt dort eine Weile herum, klappert mit Geschirr und kommt dann mit Tee oder Eiswasser zurück. Ein paarmal habe ich das Gefühl, sie würde mit jemandem reden, aber sicher war es einfach wieder nur irgendein Albtraum.
Am Silvestermorgen gehe ich auf ziemlich wackligen Beinen in Richtung Küche, um mir Kaffee oder einfach auch nur ein Glas Wasser zu holen. Alles ist still. Annabel ist weder im Dachspeicher noch im kleinen Bad.
Auf einer antik aussehenden braunen Uhr auf dem Beistelltisch der Couch sehe ich, dass es elf Uhr vormittags ist. Allerdings frage ich mich, ob das alte Teil überhaupt geht - durch die Fenster dringt nur schwaches Licht herein.
Ich setze mich auf einen kleinen Stuhl am Eckfenster, von dem aus man auf ganz Rouen blicken kann, die Rue de la République entlang bis hin zur Seine. Ein Teil von mir kann kaum glauben, vor allem wenn man an meine lange Zugfahrt denkt, dass dies dieselbe Seine ist, die auch durch Paris fließt und die französische Hauptstadt in zwei Hälften teilt.
Ich warte darauf, dass Annabel zurückkommt, wo auch immer sie gerade ist, während ich die Straßenszene unter mir beobachte.
Im Bad frage ich mich beim Zähneputzen (nicht zum ersten Mal), ob ich der erste Gast bin, den Annabel je in dieser kleinen Wohnung empfangen hat. Ich entdecke kurze dunkle Haare rund um die Badewanne und ein verschwitztes, zusammengeknülltes T-Shirt liegt versteckt hinter der Tür, sodass diese andauernd zugeht und dadurch der feuchte Raum nicht richtig auslüften kann. Es war nicht leicht, etwas über Annabels zwischenzeitliches Leben zu erfahren. Ich war so darauf konzentriert gewesen, sie zu finden, dass ich mir gar keine Gedanken mehr darüber gemacht habe, was sie wohl tagtäglich macht.
»Bonjour?«, ertönt ihre Stimme, während das Schloss klickt und die Wohnungstür sich knarrend öffnet. »PJ?«
»Ich bin hier«, rufe ich zurück, betätige die Klospülung und schrubbe mir die Hände mit der Billigseife auf der Ablage.
»Ich habe Käse gekauft«, entgegnet Annabel. »Und Croissants!«
Als ich die Badezimmertür aufmache, um zu ihr in die Küche zu gehen, sehe ich, dass Annabel sich selbst übertroffen hat. Mehrere Sorten Käse stehen verteilt auf der Küchentheke und die Croissants, die sie gekauft hat, sind so blättrig und bröseln unter dem Gewicht ihres Buttergehalts, dass ich mir sofort eines greifen muss.
»Ich habe auch ein paar Äpfel dabei«, sagt sie und setzt drei kleine grüne Äpfel neben den Käse.
»Ich liebe Äpfel«, sage ich mit vollem Mund.
»Das weiß ich doch, Dummchen«, sagt Annabel und wendet sich ab, um ein paar Weinflaschen in den Kühlschrank zu legen. »Ich bin deine Schwester. Ich weiß alles über dich.«
Als sie ebenfalls isst, sagt sie: »Okay, ich muss mit dir reden. Jetzt, wo du dich hier ein bisschen eingelebt hast und es dir besser geht, muss ich dir unbedingt jemanden vorstellen!«
Ich sage nichts.
»PJ? Alles okay? Musst du wieder ins Bett?«
»Mhm«, sage ich mit einem Nicken und dann gehe ich zurück ins Bett.
Ich träume, dass Jay nicht mich mag, sondern Olivia, und dass ich, als ich ins Lycée zurückkehre, herausfinde, dass die beiden heiraten wollen. »Bitte nicht!«, flehe ich Olivia an. »Ich habe ihn doch gar nicht richtig kennenlernen können! Was ist denn mit Vince?«
Aber Olivia lacht mich nur aus. Ihr hämisches Grinsen verwandelt sich in die harten, hässlichen Züge von Adele Marquet, meiner früheren Gastmutter. »Du findest, ich bin grausam? Dabei weißt du rein gar nichts über wirkliche Grausamkeit!«, kreischt sie.
Ich springe aus dem Bett und renne ins Bad, wo ich dreimal würge und dabei die Äpfel, den Käse und die Croissants erbreche.
»Annabel?«, bringe ich krächzend hervor. »Bist du da?« Stille.
Ich wasche mir das Gesicht und öffne die Tür. In Annabels kurzem Nachthemd fröstle ich.
»Frohes neues Jahr«, sagt da eine tiefe, mürrische Stimme, und als ich hinausblicke, sehe ich einen behaarten Mann mit dunklem Teint in einem bauschigen
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