Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe
je ins Gesicht gesagt und bestätigt, aber wir wussten, dass das auf M. Marquets Einfluss zurückging.«
Ich versuche, mir Thomas als kleinen Jungen mit langen blauen Shorts und Kniestrümpfen vorzustellen, der von dem Drama der Erwachsenen fast nichts mitbekam. Wusste er als Kind, dass er auf keine gute Schule ging? War es ihm überhaupt wichtig? Wenn ich an die Wohnung denke, in der lauter Bilder eines engelsgesichtigen Thomas hängen, habe ich den Eindruck, dass ihm der Gedanke an die Pariser Gesellschaft damals ziemlich fern lag.
»Ich hatte solche Schuldgefühle«, erzählt Mme Rouille weiter. Der Verkehr hat sich gelichtet und sie fährt jetzt schneller. Fast zu schnell. »Ich habe unser aller Leben ruiniert! Stephanes Vater, also Thomas' Großvater, ist gestorben und hat Stephane nur wenig vermacht - das meiste war in einen Fonds für Thomas' Ausbildung gewandert. Wir hatten keine Möglichkeit, unser Haus zu halten, das wir uns zu unserer Hochzeit gekauft hatten. Aber Stephane schien es egal zu sein - er fand die Umstände sogar inspirierend.«
»Inspirierend?«, frage ich. Ich sehe unsere Ausfahrt näher kommen. Ob Mme Rouille überhaupt noch im Kopf hat, wo wir hinfahren?
»Chérie, mein Mann war ein Idealist. Thomas ist ihm da nicht unähnlich. In vielerlei Hinsicht. Er liebte Frankreich, wollte aber auch gern in die Welt hinaus. Also bewarb er sich für eine medizinische Stelle in einer abgeschiedenen Gegend von Tunesien und wir sind dort hingezogen. Ich habe Thomas zu Hause unterrichtet und ab und zu konnte ich es einrichten, mit ihm nach Tunis oder in eine andere Stadt zu fahren, um einem Konzert oder einem anderen kulturellen Ereignis beizuwohnen. Stephane blühte in Tunesien auf: Er lernte Arabisch; seine Patienten liebten ihn. Auch Thomas gefiel es dort sehr - er malte und schrieb Gedichte und las jedes französische Buch, das wir für ihn besorgen konnten. Nur ich schaffte es nicht, mich dort heimisch zu fühlen. Ich vermisste meine Freundinnen und meine Schwestern und natürlich auch Paris.«
Ihre Geschichte zieht mich so in den Bann, dass ich erst jetzt merke, dass ich den Atem angehalten habe.
»Als Thomas vierzehn war, bekam Stephane mitten in der Nacht einen Anruf. Ein Beduine - ein Nomade - in einem kleinen Dörfchen in einiger Entfernung von Gabès, wo wir lebten, hatte Schüttelkrämpfe. Stephane sprang sofort in seinen Jeep, um nach dem Mann zu sehen. Drei Tage später war er noch immer nicht zurück. Thomas und ich warteten und warteten, bis endlich ein Mann von der französischen Botschaft zu uns kam und uns erzählte, dass Stephane, der viel zu schnell gefahren war, an einer rutschigen Stelle auf der Straße ins Schleudern gekommen sei und der Jeep sich überschlagen habe.« Mme Rouille wischt sich eine Träne aus dem Gesicht. »Genickbruch«, fährt sie, nun mit leiserer Stimme, fort, »und da es so spät war, wurde er erst am darauffolgenden Morgen gefunden. Er hatte nicht mal seinen Pass bei sich. Aber als ein paar Einheimische das Autowrack durchsuchten, fanden sie seine Arzttasche und darin ein ärztliches Rezept mit seinem Namen. Sie haben die Tasche mit in ihr Dorf genommen, wo der Beduine seine Krampfanfälle gehabt hatte - der war inzwischen verstorben -, und haben bei der Botschaft angerufen.« Ihre Stimme war nur noch ein leises Flüstern. »Sie hatten zu große Angst, es mir selbst zu sagen.«
»Oh, Mme Rouille.« Ich hatte ja keine Ahnung, dass Thomas' Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Welch ein niederschmetternder Anblick der Mann aus der Botschaft an der Tür gewesen sein muss! »Vorsicht!« Mme Rouille verpasst beinahe unsere Ausfahrt. Gerade noch rechtzeitig fährt sie vor einem Kombi rechts rüber.
»Desolée. Ich bin kurz entschlossen nach Paris zurückgegangen und habe aus purer Verzweiflung den letzten Willen meines Schwiegervaters angefochten. Wie konnte es sein, dass Thomas zwar Geld für seine Ausbildung hatte, aber kein Dach über dem Kopf? Das Zivilgericht hatte Mitleid mit mir, und natürlich hatte Stephane auch eine Lebensversicherung abgeschlossen. Meine einzige Sorge, nachdem wir diese Wohnung gefunden hatten, war, dass wegen M. Marquet keine Schule meinen Thomas aufnehmen würde. Aber kurz nachdem wir hierher zurückgekommen waren, erhielt ich einen Brief von einer gewissen Mme Marquet. Ich war schockiert. Ich war so weit weg gewesen - und bis nach Tunesien waren keine Nachrichten irgendwelcher Eheschließungen von gesellschaftlich
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