Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe
sein, als ich nach meiner Ankunft in der Stadt herumgelaufen bin. Noch immer fühle ich mich hier nicht ganz wohl, aber ich habe gelernt, mich einigermaßen zurechtzufinden. Wenn ich schlecht drauf bin, schleiche ich mich heimlich hierher, ohne Annabel Bescheid zu sagen, wohin ich gehe. Manchmal, wenn ich Jay auf Gchat sehe oder seine E-Mails an mich lese, bin ich versucht, ihm einfach zu erzählen, was los ist, und ihn zu bitten, mich irgendwo zu treffen.
Jay ist nicht online. Wenn er es wäre, würde ich mich jetzt davon abhalten können, einfach »ROUEN« in die Chatbox zu schreiben?
Jay hat mir gemailt, dass er mit Zack und Alex in ein Örtchen namens Montauban gefahren ist, dann nach Toulouse und sogar zu den Ruinen von Montségur. Ich lese mir durch, was ich zuletzt an ihn geschrieben habe.
Jay,
bitte verschwende nicht Deine Zeit damit, mich zu suchen. Mach Dir schöne Tage, wo immer Du bist. Ich wünschte, ich könnte dasselbe von mir sagen. Hier ist alles ziemlich übel, aber ich kann Dir nicht mehr erzählen, denn ich muss mir erst darüber klarwerden, was zu tun ist. Im Moment kannst Du mir nicht helfen, außer dass Du mir weiter mailst. Danke, dass Du da bist.
PJ
Nur wenige Minuten, nachdem ich diese Mail abgeschickt hatte, hat er mir anscheinend schon zurückgeschrieben.
PJ,
ich bin froh, dass Du mir noch schreibst. Bitte hör nicht damit auf. Bitte sag mir, wo Du bist. Ich werde kommen und Dich finden. ICH WEISS, dass ich Dir helfen kann, wenn Du mich nur lässt.
Jay
PS: Alex' Dad hat eine Suite im Grand Palace Hotel in Cannes. Dort kannst Du uns antreffen, wenn Du uns brauchst. Aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass ich Dich nie mehr wiedersehen werde. Ich mache mir solche Sorgen um Dich, so ganz allein.
PPS: Die Sonnenuntergänge hier sind wie Gemälde - Gemälde, wie nur Du sie malen kannst.
Ich schüttle den Kopf. Wenn ich nur einen klaren Schnitt hätte ziehen können! Aber nein, ich musste ja unbedingt losziehen, Jay eine Postkarte hinlegen und ihm jetzt weiter schreiben, weil ich einfach das Paris, das ich hinter mir gelassen habe, nicht loslassen kann.
Also antworte ich.
Jay,
Cannes klingt wunderschön! Und wer weiß? Vielleicht werde ich eines Tages ja wirklich Sonnenuntergänge malen. Sag nicht, dass Du mich nie mehr wiedersehen wirst. Eines Tages wirst Du es.
PJ
Ich steure auf die Église Saint-Maclou zu, eine weitere von Rouens herrlichen Kirchen. Dabei geht mir dauernd die Frage im Kopf herum, was Annabel wohl an Marco findet, der doch so furchtbar schmierig und verwahrlost ist. Und ganz plötzlich wird mir klar: Annabel braucht einfach einen Mann in ihrem Leben. Ob es unser Dad war oder Dave oder eben dieser Marco. So unabhängig sie mir auch immer vorgekommen ist, dämmert mir nun langsam, dass sie nicht ohne jemanden auskommt, der ihren abenteuerlichen Plänen Leben einhaucht und ihre Flammen schürt.
Um wenigstens kurz der Kälte zu entfliehen, betrete ich die Kirche. Währenddessen denke ich darüber nach, was ich mit dieser neuen Erkenntnis über meine Schwester anfangen soll. Die ganze Zeit über hatte ich gedacht, wenn ich Annabel erst mal gefunden hätte, würde sie mir helfen, mich in meinem Chaos zurechtzufinden. Nie ist mir in den Sinn gekommen, dass sie es ist, die mich braucht.
In einer der hinteren Bänke warte ich darauf, dass mein Gesicht wieder wärmer wird, und reibe mit den Fäustlingen über meine Wangen. In der Kirche drängen sich viele Touristen, sodass ich in der Menge gar nicht auffalle. Das ist ein gutes Gefühl. Die meiste Zeit bin ich wie gelähmt vor Angst und möchte das Apartment gar nicht verlassen. Dabei sind Annabel und ich nur zwei von ganz vielen Amerikanern hier. Selbst wenn die Marquets mich suchen und nach mir herumfragen würden, woher sollten die Einheimischen wissen, welcher der vielen Amerikaner hier ich bin? Ich könnte sonstwo sein. Ich könnte irgendeiner von ihnen sein. Wenn ich mitten in der Nacht aufschrecke, weil ich gerade geträumt habe, dass die Marquets mich aufspüren, fällt es mir irgendwie trotzdem schwer, mir das vor Augen zu halten.
Manchmal vergesse ich, dass mein Exil selbst auferlegt ist. Dass ich aus freien Stücken hergekommen bin, dass ich aus Paris und dem Lycée und vor den Marquets geflohen bin. Doch da man bekanntlich immer erst hinterher klüger ist, frage ich mich jetzt, ob dies wirklich der einzige Weg gewesen ist. Hätte ich mich vielleicht doch an Mme Cuchon wenden und ihr
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