Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe
ich für ihn eine unliebsame Überraschung darstellte.
»Ist es schön dort?«
»Sogar extrem schön.«
»Sind die Leute freundlich?«
»Die meisten schon.«
»Was hast du dort so in deiner Freizeit gemacht? Hattest du Freunde? Einen Freund?«
Ich schnaube. »Das Übliche. Ein paar Freunde. Keinen Freund.«
»Hat es dir dort gefallen?«
»Sehr sogar.« Ich schlage die Zeitschrift zu, die ich durchgeblättert habe, eine alte Ausgabe der Marianne von vor mehreren Jahren, mit verstaubten Seiten.
»Aber warum bist du dann überhaupt weggegangen?« Annabel wird nun ernst und spricht nicht mehr in dem Singsang-Ton wie noch gerade eben. Sie will es wirklich wissen. Auch wenn ich sie nicht ansehen kann, merke ich doch deutlich, dass das etwas ist, das sie unbedingt herausfinden will.
»Nichts ist perfekt«, entgegne ich flapsig. »Ich wollte dich finden. Das weißt du doch.«
»Nein, im Ernst, PJ, warum bist du weggegangen? Warum gerade jetzt?«
»Vorher hatte ich Schule. Das war der einzige Zeitpunkt, an dem ich wegkonnte, ohne dass es auffiel.«
»Ich glaube dir nicht.«
Ich werde mürrisch. Was soll das? Ich krabble zur Öffnung des Speichers, schwinge meine Beine auf die Leiter und blicke zu ihr hinab, bis sie meinen Blick spürt und zu mir hochschaut.
»Worauf willst du hinaus, Annabel? Wolltest du denn nicht, dass ich nach Rouen komme? Wolltest du nicht, dass ich dich finde, hier in deiner kleinen Klitsche? Wo du für Geld für Alkohol putzt und nachts weinst?« Meine Worte kommen schroffer heraus als beabsichtigt.
»Mein Gott, Penelope«, flucht Marco. »Ich kann echt nicht glauben, was du da sagst. Du solltest mehr Respekt vor deiner Schwester haben.«
Ich verdrehe die Augen und wende mich wieder meiner Zeitschrift zu.
Er stellt sich unten an die Leiter. »Hast du mich verstanden?«
»Ja, Marco, ich habe dich verstanden. Ich denke, das haben alle im Haus. Schon mal was davon gehört, dass man auch leiser reden kann?«
Marco starrt mich wütend an und streicht sich dabei über seinen stoppeligen schwarzen Bart. »Penelope, was ist bloß los mit dir? Bist du völlig verrückt? Local Estúpida! Warum bist du so gemein zu deiner Schwester?«
»Ich und verrückt?« Ich lache. »Nein, Marco, ich bin hier nicht die Verrückte. Ich will schließlich nicht nach Südfrankreich, um Schafe zu züchten. Ich pinkle auch nicht auf anderer Leute Mützen!«
»Penelope, es war nicht meine Schuld, dass du deine Mütze ins -«
»Ich habe sie nicht reinfallen lassen! Ich habe gar nichts getan! Alles, was ich hier versuche, ist, meiner Schwester zu helfen. Aber sie will keine Hilfe! Sie will nur den ganzen Tag high oder betrunken mit dir sein!«
»Penelope, warum kannst du nicht mal zuhören?« Wütend schlägt Marco mit der Faust gegen die dünne Gipswand des Apartments, direkt neben der Leiter, die zum Speicher hinaufführt. »Joder! Shit, fetzt schau dir nur an, wozu du mich gebracht hast!«
Annabel springt von der Couch auf. »Oh, Süßer, alles okay?« Sie holt schnell etwas Eis aus dem Kühlschrank. »Leg dir das drauf.« Sie blickt mich an. Keinen Schritt weiter, warnen mich ihre Augen. »Am besten gehen wir jetzt ins Schlafzimmer, ja? Du bist hundemüde. Wir legen uns hin und beruhigen uns ein bisschen.«
»Ich will nicht, dass sie mit uns kommt, Annabel«, höre ich Marco hinter der geschlossenen Schlafzimmertür zu meiner Schwester sagen. »Wenn sie mitkommt, steige ich aus!«
»Keine Angst, Baby, ich werde auf gar keinen Fall ohne dich gehen. Das ist schließlich unser großer Traum. Ich möchte es doch genauso sehr wie du«, höre ich Annabel ihn beschwichtigen. »Ohne dich gehe ich nirgendwo hin.«
Ich muss hier raus. Ich stürme aus der Tür der Dachgeschosswohnung. Dabei lasse ich meine Tasche stehen, ich schnappe mir nur meinen Mantel und meine Fäustlinge. Meine Mütze will ich vorerst nicht mehr tragen, auch wenn Annabel nach wie vor behauptet, dass es aus Versehen passiert ist, und sie die Mütze gewaschen, abgekocht, gedehnt und wieder in Form gebracht hat. Aber die Wolle ist nun leicht verfilzt und die Mütze kommt mir jetzt total fremd vor. Ich kann das Bild einfach nicht vergessen, wie sie in der Kloschüssel geschwommen ist.
Ich suche den Weg zum Vorplatz der Kathedrale, dort, wo ich Annabel gefunden habe. Fast kommt es mir so vor, als wären seitdem mehrere Jahre vergangen, obwohl es lediglich rund zehn Tage her ist. Ich muss in ziemlich schlechter Verfassung und durch den Wind gewesen
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