Beautiful Americans 03 - Leben á la carte
sieht noch immer hin- und hergerissen aus. »Die Einzelteile sind aber noch in Schuss. Wie steht's mit vierzig?«, fragt er den Verkäufer.
»Fünfundvierzig«, entgegnet der.
»D'accord«, stimmt Cory zu und reicht ihm das Geld. Jay verdreht die Augen.
»Weil du ja so dringend ein neues Fahrrad brauchst«, kommentiert Jay. »Noch dazu ein kaputtes.«
»Ich reparier's«, sagt Cory und wuchtet das Fahrrad hoch. Es ist zu sperrig, um damit weiter über den Flohmarkt zu gehen, deshalb beschließen die Jungs, das Fahrrad heimzubringen.
»In Ordnung, Kumpel, dann rufe ich dich später an?«, sagt Cory zu Jay. Ich folge ihnen bis zu einem großen Block mit Wohngebäuden, in denen die beiden leben. Sie gehen nur zwanzig Schritte vor mir her. Wenn sie sich jetzt umdrehen würden, wäre ich ertappt. Hier gibt es nirgends Deckung. »Meinste, du kommst den restlichen Nachmittag klar? Deine Gastfamilie ist ja noch weg, oder?«
»Ja, die kommen erst Ende der Woche wieder.«
»Hättste gern ein bisschen Gesellschaft?«
»Nein, Mann, alles cool«, antwortet Jay. »Ich hab Bock, mal 'n bisschen allein zu chillen.«
»Wie wär's später mit der Spielhalle? Sammy ist da. Ich habe ihm vorhin 'ne SMS geschrieben. Oder wir könnten zum Chinesen gehen. Quasi ein Date unter Männern. Schließlich ist heute Valentinstag, weißt du.«
»Ach ja?«, sagt Jay seufzend. »Ich weiß nicht. Ja doch, vielleicht.« Jay geht in Richtung seines Wohngebäudes, während Cory auf ein anderes zusteuert. »Ich ruf dich an, wenn ich Lust hab, was zu unternehmen.«
»Wir können uns auch einen Film anschauen«, schlägt Cory vor. »Ich habe eine Blue-Ray von Der weiße Hai, der Film haut dich um.«
»Hm«, knurrt Jay. »Vielleicht. Bis später, Mann.« Jay trottet davon, während Cory um die Ecke biegt und eine Haustür aufschließt. Ich warte ein paar Minuten, dann folge ich Jay weiter den Weg entlang, der zu seinem Hochhaus führt. Er nimmt nichts um sich herum wahr und merkt auch nicht, dass ihm jemand folgt. Was das angeht, ist er echt arglos. Und ganz von seiner Trauer absorbiert. Das ist nicht zu übersehen.
Nachdem Jay in sein Haus gegangen ist, drücke ich mich noch eine Weile in der Nähe herum, unsicher, was ich tun soll. So weit vom Flohmarkt entfernt, ist es ziemlich still. Einzig und allein fernes Autogehupe und ein paar Vögel sind zu hören. Als sich irgendein Belüftungssystem an einem der Fenster einschaltet, läuft es mir kalt den Rücken runter. Die wirbelnden Rotoren klingen wie näher kommende Schritte.
Am liebsten würde ich ins Haus hineingehen und an seine Tür klopfen. Gleichzeitig möchte ich wegrennen, damit er nicht hineingezogen wird in die ganze Sache - in mein Leben.
Ich setze mich auf eine Bank nicht weit vom Hauseingang entfernt. Plötzlich zieht sich der Himmel zu und nach wenigen Minuten nieselt es. Während die Sonne immer weiter untergeht, werden die Regentropfen größer und schwerer. Es dauert nicht lang, bis das Gras zu meinen Füßen ganz nass ist. Bestimmt sind meine Schuhe bald dreckig und voller Wasser.
Ich beuge mich vor und lege mein Gesicht in meinem nassen Schoß. Was soll ich bloß tun?
Ich bin nach Paris zurückgekommen, weil ich Hilfe brauche. Ich schaffe das nicht allein. Aber jetzt, da ich hier bin, buchstäblich an Jays Türschwelle, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich das wirklich tun kann und soll.
Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich jemanden so sehr brauchen darf.
In einem Fenster in meiner Nähe geht ein Licht an. Ich blicke auf.
Jay.
Ich sehe ihn in seinem Zimmer, einem sehr kleinen Raum, den er sich mit seinem Gastbruder teilen muss. Darin stehen zwei schmale Einzelbetten mit »Tim und Struppi«-Bettbezügen. Jay sitzt an einem Schreibtisch und zieht ein Schulheft hervor.
Ich sehe zu, wie er ein paar Minuten fieberhaft schreibt. Dann dreht er sich zum Fenster und starrt in den Regen hinaus. Ich stehe auf. Ich habe das Gefühl, unerbittlich nähergezogen zu werden. Ich habe nur noch eins im Sinn: auf die andere Seite der Fensterscheibe zu gelangen. Ich mache einen Schritt, dann noch einen. Meine Turnschuhe sind vom Regen durchweicht und quatschen, sodass es sich anfühlt, als würde ich über einen vollgesogenen Schwamm laufen. Ein komisches Gefühl.
Der Gedanke, schnell wegzuhuschen oder mich zu verstecken, kommt mir irgendwie gar nicht. Ich gehe immer näher und näher heran und frage mich, ob er mich wohl sehen wird. Das wünsche ich mir so sehr!
Ganz langsam macht
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