Beautiful Americans 03 - Leben á la carte
anzuvertrauen. Irgendwie war mir klar, dass sie nicht verstehen würde, wie ein Freund - und dazu noch einer, der einen liebt - einen sogar am meisten enttäuschen kann.
Ich laufe um den massiven Louvre-Museumskomplex herum und dann den überdachten Fußweg die Rue de Rivoli entlang. Die Touristengeschäfte, die I-LOVE-PARIS-Auto-Aufkleber und kleine Schnapsgläschen mit »La Tour Eiffel« verkaufen, machen gerade erst auf.
Im Jardin des Tuileries setze ich mich hin und beobachte, wie allmählich die Touristen eintrudeln und als Teil ihres Besichtigungsprogramms aller Hauptsehenswürdigkeiten in Paris ihre Runden in der königlichen Parkanlage drehen. Ich persönlich finde den Park gar nicht so aufregend. Der Boden besteht hauptsächlich aus brauner Kieselerde und hier und da steht eine alte unheimliche Steinstatue herum. Trotzdem kann ich mich nicht dazu aufraffen, aus dem Park und zur Schule zu gehen, so wie ich es eigentlich müsste.
Weit nach zehn Uhr sitze ich noch immer dort, auf exakt derselben grünen Bank, starre auf exakt denselben Springbrunnen, höre exakt dieselben Gesprächsfetzen der Menschen, die an mir vorbeiflanieren. Auch wenn ich kein Japanisch oder Italienisch oder Spanisch verstehe, weiß ich, dass sie sagen, wie schön es hier doch sei. Ihr Tonfall ist nämlich der gleiche wie der meiner Mom, als sie während ihres Paris-Besuchs begeistert durch die Tuilerien gelaufen ist. Immer und immer wieder hat sie bei jedem königlich aufgestellten Stein entzückte Laute von sich gegeben.
Mein Handy klingelt. Ich betrachte es wie ein fremdartiges Objekt. Ich brauche einen Moment, um zu entscheiden, ob ich überhaupt drangehen will.
Wenn es Thomas ist, ist in mir alles zu unverdaut, bin ich mir zu unsicher, wie es mir wirklich geht, um mit ihm zu reden. Sollte es jemand anders sein, will ich nicht erklären müssen, warum ich im kalten Jardin des Tuileries sitze und Däumchen drehe. Es könnte allerdings auch Mme Rouille sein, die erfahren hat, dass ich die Schule schwänze. In diesem Fall sollte ich unbedingt rangehen und ihr sagen, dass ich krank und auf dem Heimweg sei.
Aber es ist Jay.
»Habe ich Ärger?«, frage ich ohne ein Wort der Begrüßung.
»Was? Olivia? Nein«, entgegnet Jay. »Ich meine, keine Ahnung ... Warte mal, wovon redest du eigentlich?«
»Bist du nicht in der Schule?«, frage ich ihn.
»Ich habe mich verspätet. Ich bin noch nicht da«, antwortet Jay nach einem kurzen Zögern. »Du bist also auch nicht in der Schule?«
»Nein«, sage ich. »Ich meine, ich komme auch zu spät. Ich weiß nicht. Ich hatte einen ziemlich seltsamen Morgen. Wo bist du? Was ist los?«
»Pass auf, ich bin auf dem Weg zur Schule. Sorry, dass ich störe, aber ich muss unbedingt wissen, wo du deinen neuen Haarschnitt her hast. War das in Ternes?«
»Meinen Haarschnitt? Nein, nicht in Ternes. Ich war bei Marni in der Nähe von Arts et Metiers, auf der Rue Beaubourg. Sie arbeitet im Hinterzimmer von so einem total überfrachteten Grufti-Laden - sie verkaufen dort Kristalle und so. Warum fragst du? Willst du dir die Haare schneiden?« Ich bin verwirrt.
»Das ist perfekt! Toll, cool. Kristallgeschäft. Okay, danke. Livvy, dann bis gleich in der Schule«, sagt Jay und legt auf.
Ich klappe mein Handy zu und betrachte es wieder. Wie sonderbar.
Das Gespräch mit Jay hat mich allerdings wieder in die Realität zurückgeholt.
Ich beschließe, auch die restlichen Schulstunden sausen zu lassen - selbst wenn ich das erst vor ein paar Wochen mit André gemacht habe - und nachzusehen, ob Jay wirklich zu dem Friseursalon geht. So kann ich Marni wenigstens Hallo sagen und mich für meine neue Frisur und das neue Ich bedanken, das sie geschaffen hat ... auch wenn mich das merkwürdigerweise meine Beziehung zu Thomas gekostet zu haben scheint.
Ich bin ein ganz neues Ich. Ein ganz neues Ich ohne Thomas.
* * *
»PJ?«, rufe ich und stoße fast eine Vitrine mit Kristallen um. Ein paar Steine lösen sich aus ihrer Verankerung, sodass regenbogenfarbenes Licht auf die Wände von Marnis kleinem Geschäft geworfen wird.
Da sitzt sie. Auf demselben Stuhl, auf dem ich just eine oder zwei Wochen zuvor gesessen habe. Wie ein Mannequin, wenn auch erstarrt und erschrocken. Ihre hellblauen Augen blicken erst sie selbst im Spiegel an, dann mich. Ihre blassen vollen Lippen sind leicht geöffnet, als wollte sie so viel Luft wie möglich in ihre Lungen saugen und dann einen markerschütternden Schrei ausstoßen.
Marni wendet
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