Bedroht
Mama. Ich bin’s. Du hattest angerufen. Tut mir leid, dass ich gestern so kurz angebunden war. Er hat mehrmals bei mir angerufen. Inzwischen hat die Polizei mit ihm gesprochen. Hoffentlich gibt er jetzt auf. Hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich. Ich versuche es später noch mal. Kuss. Tschüs.«
64
Erik saß auf dem Fußboden und schwitzte. Er streckte einen Arm aus und befühlte Kathrines Hals, suchte nach ihrem Puls. Er tätschelte ihre Wange. Keine Reaktion. Das Gesicht war schlaff, und sie sah plötzlich so anders aus.
Erik erhob sich abrupt und deutete mit ausgestrecktem Arm auf sie.
»Ich habe dir doch gesagt, dass du still sein sollst«, sagte er und stieß sie dann vorsichtig mit dem Fuß an. »Kathrine?«
Er wich zurück, bis er an den Küchentisch stieß, zwang sich, ruhig zu atmen.
»Ich habe gar nicht fest zugepackt«, sagte er. »Das ist deine Schuld. Du hast dich geweigert zu gehorchen.«
Ihre Augen waren weit geöffnet und sahen ihn vorwurfsvoll an. Erik drehte sich weg, wollte sie nicht anschauen.
»Du hast mich dazu gezwungen.«
Kathrines Telefon klingelte erneut. Erik drückte sich an ihrem leblosen Körper vorbei, öffnete die Handtasche und las auf dem leuchtenden Display: Anna.
Erik musste gegen den Impuls ankämpfen, zu antworten, wollte ihre Stimme hören.
Das Telefon hörte auf zu klingeln. Er betrachtete Kathrine. Es gab keine Würgemale. Er hatte nicht fest gedrückt, wollte sie nur daran hindern, ans Telefon zu gehen. Jetzt lag sie da. Unbeweglich, mit schlaffen Gesichtszügen und stierem Blick. Er beugte sich vor und berührte vorsichtig ihre Schulter.
Ihm war kein Vorwurf zu machen, er hatte nichts getan. Er hatte sie nur festgehalten und gar nicht viel Kraft angewendet. Es war nicht seine Schuld. Sie war vollkommen hysterisch geworden, wie verwandelt.
Vielleicht litt sie an einer angeborenen Herzschwäche? Das war nicht undenkbar. Im Gegenteil. Eine schwaches Blutgefäß, das plötzlich und unerwartet …
»Denk nach«, sagte er. »Denk nach, denk nach, denk nach.«
Dieser unglückliche Zwischenfall durfte ihm nicht die Zukunft zerstören, das wäre nicht gerecht. Das Leben war noch nie gerecht gewesen, zumindest nicht, was ihn betraf, aber für alles gab es Grenzen. Immer bekam er die schlechtesten Karten ausgeteilt. Warum gerade er? Das war falsch. Falsch aus einer göttlichen Perspektive. Er war jung, sie war alt. Alt und wichtigtuerisch und unerträglich selbstgefällig. Die Welt war nicht schlechter ohne sie, keinesfalls. Ganz und gar nicht.
Das war alles Annas Schuld. Sie hatte ihre Mutter mit übler Nachrede vergiftet, feige und rückgratlos die Geschichte umgeschrieben, um sich aus der Schlinge zu ziehen.
Er hatte sich Mühe gegeben. Versucht zuzuhören. Und wie hatte sie ihm das gedankt? Indem sie die fürchterlichsten Vorwürfe gegen ihn erhob. Genau wie ihre Tochter. Kathrine wusste, wie die Welt beschaffen war, und weigerte sich einzusehen, dass ihre Wahrheit nicht unbedingt für den Rest der Menschheit zutraf. Selbstgefällig und widerwärtig allwissend, und wenn ihr etwas nicht passte, dann schloss sie die Augen und lächelte herablassend.
Er brauchte Zeit. Anna würde immer wieder anrufen. Er schaute auf die Uhr. Viertel vor eins. Anna war im Büro.
Kathrines Handy piepste.
SMS des Anbieters. Nachricht in der Mailbox. Er nahm Kathrines Handy aus ihrer Handtasche und hörte es ab. Annas Stimme, die er in so vielen Gemütslagen gehört hatte.
»Hallo, Mama. Ich bin’s. Du hattest angerufen. Tut mir leid, dass ich gestern so kurz angebunden war. Er hat mehrmals bei mir angerufen. Inzwischen hat die Polizei mit ihm gesprochen. Hoffentlich gibt er jetzt auf. Hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich. Ich versuche es später noch mal. Kuss. Tschüs.«
Er hat mehrmals bei mir angerufen …
Wie sie das sagte. Als ob er ein Irrer wäre, der Telefonterror betrieb. Als sehnte sie sich nicht nach seiner Aufmerksamkeit, als wünschte sie sich, dass er auf Distanz blieb. Als wäre nur er interessiert. Eriks Gesicht verzerrte sich vor Wut. Sie log. Schamlos und rücksichtslos.
Ein anderer Gedanke drängte sich in sein Bewusstsein. Anna war nicht auf Kathrines Besuch bei ihm zu sprechen gekommen, hatte auch nicht gefragt, wie es gelaufen war. Kathrine hatte mit anderen Worten die Wahrheit gesagt, als sie behauptet hatte, aus eigenem Antrieb gekommen zu sein.
Gut, sehr gut.
Er klickte sich zu den Mitteilungen durch, öffnete die Inbox und las Kathrines SMS-Wechsel
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