Beerensommer
den letzten Worten hatte er Johannes mit dem übrig gebliebenen Auge verschmitzt zugezwinkert. Dann drehte er sich abrupt um und ging ins Haus. Johannes sah ihm lange nach, so lange, bis der Fahrer, der ihn mit einigen anderen Kameraden zum Bahnhof bringen sollte, ungeduldig herüberschrie.
Er, Johannes, hatte einen neuen Freund gewonnen! Mehr noch, er hatte durch ihn einen neuen Blick auf die Welt getan. Vorsichtig fühlte er in der Jackentasche nach dem Taugenichts und umfasste fest das dünne, abgegriffene Büchlein. In dieser Geschichte gab es auch Arme und Reiche, Grafen und Diener, und auf den ersten Blick schien das dem Taugenichts wenig auszumachen, denn er hatte ja seine Geige und seine Kunst. Aber andererseits hätte er seine geliebte Aurelie nicht bekommen, wenn sie wirklich eine Gräfin gewesen wäre. Deshalb war er auch ins ferne Italien geflohen.
Vielleicht hat Paule doch recht, dachte Johannes, vielleicht kommt zuerst das Politische, bevor wir richtig und gut leben können. Und trotzdem, konnte man mit dem Bösen das Gute erzwingen? Er musste unbedingt mit Friedrich darüber reden.
Überhaupt, Friedrich! In ein paar Tagen würde er wieder zu Hause sein. Ihm wurde plötzlich ganz leicht ums Herz, zum ersten Mal seit vielen Monaten empfand er wieder so etwas wie Freude. Sein Blick ging noch einmal hinüber zum Lazarett, dann weiter zum silbrig hellen Horizont, wo immer noch getötet und gestorben wurde. Er umfasste ein weiteres Mal das Büchlein, schob es sorgsam in die Tasche zurück und knöpfte seine Jacke zu, dann ging er entschlossen hinüber und trat seine Reise an, seine Reise zurück ins Leben.
24
»Machen wir’s kurz, Weckerlin.« Louis Dederer hob den Kopf und fixierte Friedrich mit einem scharfen Blick, in dem etwas lag, was er nicht deuten konnte. Trotzdem war er nicht beunruhigt. Was er vorgebracht hatte, war klar und eindeutig. Glasklar war es und die Zahlen, die in seiner ordentlichen Handschrift auf den Zetteln dort auf dem Schreibtisch vor Louis Dederer lagen, waren es auch.
»Machen wir es also kurz und bringen es auf den Punkt. Du behauptest, mein Vorarbeiter Franz Übele betrügt mich – betrügt mich systematisch und seit längerer Zeit!«
Friedrich nickte. »Wie lange, kann ich nicht sagen. Aber sicher schon so lange, wie ich im Sägewerk arbeite.«
»Und das ist dir einfach so aufgefallen? Hast ja scharfe Augen.« Louis Dederers Stimme klang sarkastisch und Friedrich hütete sich, ihm direkt darauf zu antworten. Schließlich konnte er ihm schlecht auf die Nase binden, dass er Übele beobachtet hatte, ihn belauert und ihm nachspioniert hatte, besonders seit dem Sturz auf der Treppe zum Sägemehlraum. Aber wahrscheinlich konnte es sich der Dederer sowieso denken.
»Ich hab nachgemessen«, erklärte er stattdessen noch einmal, »und am Gatter ist mir immer wieder aufgefallen, dass wir schlechtes Holz bekommen. Drehwuchs, astig, Faulflecken.«
»Schädlingsbefall und Fäule sind äußerlich nicht immer zu erkennen!«, kam es scharf von der anderen Seite des Schreibtisches.
»Sicher nicht. Aber alles andere sehe ich. Auch Fällungsschäden kann ich erkennen und Schwämme und unsachgemäße Lagerung sowieso. Wie ich Ihnen schon gesagt habe, Herr Dederer, wir haben einfach zu viel Verlust. Ich bekomme am Gatter Holz, angeblich Güteklasse A, und es ist Mist, Dreck, sage ich. Buchen mit Chinesenbärten, stark astige Lärchen – da kann ich sägen, wie ich will, das wird nichts. Ich hab nachgemessen, am Polderplatz und dann am Stapelplatz: viel zu viel Ausschuss. Sie sehen doch die Zahlen.«
»Woher weißt du, dass dieses Holz als Güteklasse A eingekauft und auch so bezahlt wurde?«
Friedrich schwieg. Das war noch so ein heikler Punkt. Lisbeth hatte ihn in die Bücher schauen lassen. Er hatte ihr nicht erklärt, warum er das wollte. Sie hatte ihn nur angesehen aus den hervorquellenden blauen Augen, dann hatte sie ihm wortlos die Bücher hinübergeschoben. Er hatte sich dann nach Feierabend hingesetzt und die Zahlen abgeschrieben, feinsäuberlich auf diese Zettel, die er später triumphierend nach Hause getragen hatte. Das leise Knistern hatte ihm immer wieder in den Ohren geklungen, als flüstere es ihm zu, dass es ihn weiterbringen werde. Es war die vollkommene Rache!
Louis Dederer fragte nicht weiter. Er ließ seine Rechte schwer auf die Papierbögen fallen, sodass kleine Staubkörner wie feiner Nebel in der hellen Julisonne aufstiegen. »Es könnte doch auch sein,
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