Beerensommer
braucht. Sie hat ihm versucht alles zu erklären, hat von den Fotos erzählt, den Fragen, die ihr nie beantwortet wurden, ihrer Suche nach den Wurzeln.
Ob er es verstanden hat? Er weiß alles über seine Familie, kennt ihre Namen, ihre Gesichter auf den Fotos, kennt die Geschichten.
Er hat geduldig und verständnisvoll zugehört und dann haben sie über die Zukunft gesprochen, über seine Pläne. Ein Jahr nach Amerika will er gehen, dort im Architekturbüro eines ehemaligen Studienkollegen seines Vaters arbeiten, der »geniale Häuser« baue. Dabei hat er begeistert die Serviette mit Gebilden voll gekritzelt, die eher wie große Erdhügel aussahen.
Ich beneide ihn, denkt Anna plötzlich. So viele Pläne, so viel Begeisterung und Hoffnung in die Zukunft. Vielleicht wühle ich auch deshalb in der Vergangenheit herum, weil ich Angst hab, nach vorne zu blicken? Und was ist das mit uns beiden? Fühlen wir uns womöglich verpflichtet, ein Paar zu werden, bloß weil Fritz’ Großonkel und meine Urgroßmutter – was für eine verrückte Vorstellung!
Ein Familienfluch, das wäre noch was! Sie lacht unwillkürlich auf. Dann geht sie zur Rückseite des Hauses. An der Wand lehnen noch eine altersschwache Leiter und eine Sense. Sie sieht Johannes auf die Obstbäume steigen und sieht ihn den steil abfallenden Hang hinter dem Haus mähen. Wofür hat er das Gras gebraucht? Richtig, da stehen noch die Überreste eines Hasenstalls. An der rechten Seite des Grundstücks ziehen sich viele Beerenstöcke hinauf bis zur Krümmung des Berges, wo die Wiese in eine schmale, ebene Fläche ausläuft, auf der in Reih und Glied Apfel- und Birnenbäume stehen. Das alles habe Johannes gepflanzt, hat ihr Gretl am Morgen erzählt.
Vor dem Frühstück hat sie die alte Dame gleich mit Fragen bombardiert. Ob sie sich noch an die Hochzeit von Friedrich und Lisbeth und auch an die ihres Urgroßvaters erinnere? Und Fotos, es muss doch Fotos geben! Ein Bild von Johannes und Marie hat sie schon in Berlin gesehen, aber vielleicht gibt es hier noch mehr?
Gretl hat auf ihre Bitte hin noch einmal die alten Fotoalben hervorgekramt. Und tatsächlich, da war das Bild, das sie schon in Berlin gesehen hat. Direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Albums, klebte eine größere Fotografie, die das junge Ehepaar Weckerlin im Hochzeitsstaat zeigt.
Ja, an die Hochzeiten könne sie sich noch gut erinnern, hat ihr Gretl erzählt. Die von Lisbeth und Friedrich sei einfach prachtvoll gewesen. Sie und ihre Mutter sind nicht eingeladen gewesen, mit der Stadtmühle und ihren Bewohnern wollte Friedrich, zumindest offiziell, nichts mehr zu tun haben. Aber Lene hat im Dederer-Haus aushelfen dürfen, die Gläser nach dem Empfang der Gäste am Morgen spülen und Frau Kiefer noch etwas zur Hand gehen. Am Nachmittag habe sie dann etwas vom Hochzeitskuchen mitgebracht. Das erste Mal in ihrem Leben hat Gretl damals Torte gegessen, Torte aus feinem, weichem Teig mit einer wunderbaren Creme, Buttercreme, aus richtiger Butter, das vergäße man sein Leben nicht. Gleich nach der Schule seien sie zum Kirchplatz gerannt, um noch einen Blick auf das Paar erhaschen zu können.
»Komisch ist das schon gewesen«, hat Gretl sehr nachdenklich gesagt. »Das war Friedrich, unser Fritz aus der Stadtmühle, und dann hat er auf einmal so vornehm ausgesehen in seinem neuen Frack mit dem hohen weißen Kragen. Er war mir plötzlich ganz fremd, wie ihm all die wohlhabenden Leute gratulierten, wie er sich vor dem Herrn Zinser verbeugte, der ihm auf die Schulter klopfte – der reiche Herr Zinser, ich hab es damals gar nicht glauben können! Und Lisbeth, nun, es war schon Lisbeth Dederer, aber auch sie sah so anders aus, wie verkleidet in ihrem weißen Seidenkleid und dem Spitzenschleier.«
Anna hat sich das Bild heute Morgen genau angeschaut. Stocksteif standen die Personen da, die Augen starr auf die Kamera gerichtet. Eigenartig, hat sie gedacht, irgendwie wirken die Menschen auf diesen alten Bildern so ernst, so angespannt. Ein Foto ist damals natürlich noch etwas Besonderes gewesen, da wollte man nichts falsch machen und man durfte sich auch nicht bewegen. Und dann waren sie auch so unnatürlich und gestellt, so wie das von Lisbeth und Friedrich. Die Braut saß da, als ob sie einen Stock verschluckt hätte, und den üppigen Blumenstrauß aus Lilien und Nelken – ein scheußliches Gebilde – hielt sie wie eine Waffe. Und Friedrich: den Rücken durchgedrückt und den Kopf stolz erhoben! So
Weitere Kostenlose Bücher