Beerensommer
hinausgezögert. Im oberen Wald habe man ihn schließlich ein paar Jahre später gefunden. Tot, erschossen. Ob es ein Fememord seiner neuen Kameraden gewesen sei oder ob man ihm nicht mehr getraut habe, fragten sich viele. Manche hätten auch behauptet, die Kommunisten seien es gewesen. Auf jeden Fall habe man es nie herausbekommen und der Übele habe in einem der Dörfer ein Armengrab bekommen.
Hier hat Gretl für einen Moment innegehalten. »Aber es ist ein schlechtes Vorzeichen für die Hochzeit damals gewesen, und dass der Fritz so bleich und ernst auf dem Foto aussieht, das ist nicht erstaunlich – dem saß der Schreck noch in den Knochen! Erst der drohende Tod und dann die Hochzeit und sein neues Leben, das passte alles nicht zusammen.«
Nachdenklich geht Anna wieder zur Vorderseite des Häuschens. Es ist auf einmal viel vom Tod die Rede, genau so, wie Johannes geschrieben hat.
Oben im Dachgeschoss versucht jemand eines der beiden Fenster aufzumachen. Die Farbe ist abgeblättert und Richard hat einige Mühe beim Öffnen, wahrscheinlich hat sich das Holz verzogen. Nach kräftigem Rütteln gelingt es ihm und sein Gesicht erscheint in der Fensteröffnung, dahinter sieht man den Lockenkopf von Fritz. Richard ruft ihr etwas zu, Anna kann ihn nicht richtig verstehen, sie soll wohl hereinkommen. Die wenigen Steinstufen, die zur Eingangstür führen, sind alt und kaputt. Beim Hochgehen bemerkt Anna, wie der Stein bröckelt, und auch das wurmstichige Geländer wackelt bedenklich. Diese Stufen habe Johannes selber gemauert, genauso wie er das Haus buchstäblich mit eigenen Händen erbaut habe, so jedenfalls haben es ihr Gretl und Richard erzählt.
Nichts vom Wandern in die Fremde, vom Fortgehen mit der Liebsten in eine bessere Zukunft – stattdessen Steine schleppen, Mörtel rühren, Kindergeschrei, Graupensuppe und Sorgen, jede Menge Sorgen!
Warum bloß hat er dieses Haus gebaut?, fragt sich Anna. Er ist ja längst nicht so zäh gewesen wie Friedrich. Und für Marie muss es auch eine ganz schöne Belastung gewesen sein. Das hat ihr Gretl sehr anschaulich berichtet. Eimerweise habe Marie die Steine vom Wald herunterschleppen müssen. Förmlich in den Boden gedrückt hätte sie die schwere Last und dass sie später im Alter einen schiefen Rücken und auch starke Schmerzen gehabt hätte, sei kein Wunder gewesen – seine schöne Marie, seine geliebte, angebetete Marie!
Warum, Johannes? Wolltest du den anderen zeigen, dass du deiner Familie auch ein Dach über dem Kopf verschaffen kannst? Wolltest du es vor allem einem zeigen, einem, der seinen protzigen Palast dort auf der anderen Seite des Tals gebaut hat? Nein, du warst nicht fertig mit ihm, auch wenn du das so geschrieben hast; bist nie fertig geworden mit ihm und er nicht mit dir! Dein Preis war auch zu hoch, Johannes!
Anna steigt die Stufen der schmalen Holztreppe hoch, die in das Obergeschoss führt. Da oben sind die Kinderzimmer gewesen. Anna, ihre gleichnamige Großmutter, hat darin gewohnt und später Marie, ihre Mutter. Das andere Zimmer war wohl Georgs.
Georg, von dem im letzten Buch so viel die Rede ist. Sie hat beim ersten Durchblättern schon gemerkt, wie schwer es Johannes fällt, über ihn zu schreiben. Sein Stil wirkt auf einmal fast unbeholfen, so, als misstraue er den Wörtern, weil er sich selbst misstraut hat.
Was jetzt folgte, hatte nichts mehr zu tun mit den Träumen, die er bis dahin gesponnen hatte. Nichts von »himmelblauen Blumen, von schönen, dunkelgrünen, einsamen Gründen, wo Quellen rauschten und Bächlein gingen und bunte Vögel wunderbar sangen«.
Nichts von Italien, Rom und den »schönen Wasserkünsten«. Stattdessen eine Geschichte von Schuld und Tod.
35
Johannes stapfte über die Wiese, die bis zur Krümmung oben am Waldrand steil abfiel. Weiter unten gab es ein flaches Stück, da sollte das Haus stehen. Es war kein gut geschnittenes Grundstück, aber es gehörte ihnen, vielmehr Marie. Sie hatte es vor einigen Wochen von ihrem Vater geerbt, der überraschend gestorben war.
Er hatte zwar schon länger gekränkelt, war immer schmaler und blasser geworden, der stille, kleine Mann, aber das werde schon wieder, hatte seine Frau gemeint. Eine verschleppte Erkältung, nichts weiter, deshalb auch der Husten, der ihn Tag und Nacht quälte. Und da sie stets in allem die Oberhand behalten hatte, war er erst spät zum Arzt gegangen. Es sei nichts mehr zu machen, hatte man dann im Krankenhaus in Stuttgart gesagt. Es war
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