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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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ihm liegende Bleistiftzeichnung, die halbfertig ein Porträt der kleinen Anna darstellte. Dreck war das, Dreck! Es stimmte nichts! Er musste neu anfangen, ganz neu. Vor einigen Wochen hatte er in Pforzheim eine Ausstellung gesehen. In der Mittagspause war ihm das Plakat aufgefallen, das auf die Ausstellung hinwies und das darauf abgedruckte Bild hatte ihn elektrisiert. Noch nie hatte er etwas Ähnliches gesehen! Es stellte eine Landschaft dar, aber wie anders, wie völlig verschieden von seinen stümperhaften Versuchen war sie ausgeführt. Die Farben waren nur flüchtig aufgetragen, und was waren das für Farben! Sie hatten mit der Wirklichkeit nicht das Geringste zu tun, Wiesen in grellstem Rosa, die Häuser als kleine Schachteln in einem schmerzhaften Grün, darüber wölbte sich ein lohfarbener Himmel und dazwischen fast kindlich und wie hingeworfen einige schwarze Pinselstriche, die die Konturen umrissen. Verrückt war das, völlig verrückt und doch hatte er wie verzaubert dagestanden und konnte den Blick nicht mehr abwenden. Er hatte sich eine Eintrittskarte gekauft und war ungestüm durch die Räume geschritten, denn die Mittagspause war knapp bemessen. Mit jedem Bild steigerte sich seine Aufregung. Das war es, das war Kunst – das Sichtbarmachen von dem, was hinter den Dingen lag! Seit dem Krieg hatte er gewusst, dass man anders malen musste.
    Das Wahre war nicht das Schöne, das Wahre war meist das Hässliche und es gab Wahrheiten außerhalb der Bilder, wie er sie bis dahin gemalt hatte. Nicht mehr das stumpfe Abzeichnen, das Abbilden einer Wirklichkeit, die doch nur vordergründig war! Es war nicht echt, deshalb hatte er nach dem Krieg nichts Ordentliches mehr zustande gebracht. Und wie diese Maler, Expressionisten nannten sie sich, die Menschen darstellten! Er hatte begriffen, dass es darum ging, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Man musste den Menschen in seiner Vielgestaltigkeit zeigen, denn zu jedem Individuum gehörte das Gute und das Böse. Das hatten diese Maler geschafft, mit dieser unerhörten Farbgebung, dieser faszinierenden Technik, die die Dinge in ihre Bestandteile zerlegte und aus verschiedenen Blickwinkeln abbildete, um eine gänzlich neue Sicht auf sie zu bekommen.
    Gleichzeitig war neben dieser Begeisterung ein lähmendes Gefühl der Verzweiflung über ihn hereingebrochen. So wollte er malen, genau so! Aber er musste lernen, fragen, suchen. Er hatte sich die Namen der Künstler aus dem Katalog herausgeschrieben und auch die dort angegebenen Orte, wo sie lebten und arbeiteten. Meistens wurden Berlin oder München genannt, unerreichbare Orte, für ihn ferner als der Mond.
    Er musste doch arbeiten, Geld verdienen, mehr als zuvor. Das Haus hatte alle Ersparnisse aufgezehrt, obwohl sie das meiste mithilfe von Maries Familie selbst gemacht hatten. Mehr noch, er hatte Schulden bei der Sparkasse, jeden Monat musste eine feste Summe abbezahlt werden, sonst wurden sie kurzerhand auf die Straße gesetzt. Vielleicht mussten sie dann sogar in einen der Eisenbahnwaggons ziehen, die auf der anderen Seite der Leimenäcker aufgestellt worden waren. Vor Kurzem war auch die alte Frau Mühlbeck mit ihrem Sohn Otto und dessen Frau dort eingewiesen worden. Otto verdingte sich als Gelegenheitsarbeiter und hatte eine stetig wachsende Kinderschar zu versorgen, die barfuß und verdreckt zwischen den Waggons spielte. Der kleine Georg hatte sich immer wieder am Rand der Straße postiert und sehnsüchtig hinübergeschaut, denn trotz aller Armut schien es ein munterer und fröhlicher Haufen zu sein, aber Marie hatte ihn jedes Mal leise scheltend weggeholt. »Da gehst du nicht hin, die Kinder sind zu schmutzig. Davon wird man krank!«
    Johannes spürte den rauen Stamm des Zwetschgenbaumes an seinem Hinterkopf. Wahrscheinlich machte er alles falsch! Er hatte das Haus gebaut und sich und Marie dabei alles abverlangt. Sie war dünn geworden, viel zu dünn und ging seit einiger Zeit ganz gekrümmt, als ob sie immer noch die schweren Eimer mit den Steinen vom Wald hinunterschleppte. Dieses Haus, das gerade das Nötigste enthielt, seine Vorstellung von Freiheit, bedrückte ihn jetzt. Nachts lag er oft wach und überlegte fieberhaft, was geschehen würde, wenn er seine Schulden nicht mehr bezahlen könnte.
    Es war sehr still im Garten, von ferne hörte man das Gackern der Hühner, die sich die Eisenbahnleute hielten. Marie war mit den Kindern zu ihrer Mutter gegangen. Er war dankbar, dass sie nicht weiter gedrängt

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