Beerensommer
er hatte am Nachmittag nicht im Kontor gearbeitet. Er merkte, dass Caspar ihn immer wieder merkwürdig ansah, ein hündisch ergebener Blick war das. Vielleicht steckte doch keine Drohung dahinter, vielleicht war es ein Betteln um Anerkennung, eine Art Kumpanei, die ihm angeboten wurde: Ich weiß von deiner Sorge, aber keine Angst, bei mir ist alles gut aufgehoben, wir halten doch zusammen! Das war fast noch schlimmer als eine unverhohlene Drohung.
Friedrich neigte den Kopf, was man als zustimmendes Nicken deuten konnte und endlich war Caspar draußen, hatte sich lautlos hinausgeschlichen, vorbei an Gretl, die an der offenen Tür stand und ihm missbilligend nachblickte. Sie konnte ihn nicht ausstehen, das hatte sie mehr als einmal gesagt. »Da war mir der Alte ja noch lieber als dieser Schleicher. Und seine Frau, ein ekelhaftes Weibsbild ist das, mit ihrem Gerede von der Reinheit des Blutes und solchem Quatsch.« Sie hatte auch offen protestiert, als er Caspar damals eingestellt hatte, mehrere Male hatte sie ihn zur Rede gestellt und er hatte oft gedacht, dass niemand anderer als Gretl solche Worte sagen durfte. Seit Gustes Tod war ihre Beziehung getrübt gewesen, sie verzieh ihm nie, dass er Guste nicht geholfen hatte, obwohl er immer wieder beteuert hatte, die Nachricht sei zu spät zu gekommen. »Was lässt du dich überhaupt mit diesem Gesindel ein, gibst denen dein Geld und lädst sie in dein Haus ein?«, war dann stets ihre stereotype Frage gewesen und er hatte keine Antwort gewusst, jedenfalls keine, die Gretl zufrieden gestellt hätte.
»Frau Mössinger möchte dich sprechen«, sagte sie mit betont ausdrucksloser Miene, aber er kannte sie und wusste, dass sie ziemlich aufgebracht war.
»Frau Mössinger? Und was will sie von mir?« Friedrich war erstaunt.
»Das soll sie dir selber sagen.« Sie kam nach wenigen Minuten zurück und hatte fürsorglich einen Arm um die schmale, gebückte Gestalt gelegt, die ganz in Schwarz gekleidet war. Friedrich erhob sich. Früher war die Mössinger eine stattliche Frau gewesen, die Haare trug sie zu einer dicken Krone geflochten, was ihr ein sehr beeindruckendes Aussehen verliehen hatte. Schwarz hatte sie seit dem Tod ihres Mannes immer getragen, er kannte sie gar nicht anders, aber jetzt schlotterten die Kleider um den mageren Körper und die dünn gewordenen Haare waren nur nachlässig mit einem Kamm aufgesteckt. Eine alte Frau, dachte er beklommen, sie ist eine alte Frau geworden und ich ein reifer Mann, trotzdem sehe ich immer noch die stolze Frau Mössinger vor mir, wie sie mir eine Hand voll Kartoffeln zusteckt. Das konnte er nie vergessen. Gretl hatte seiner Besucherin einen Stuhl herangezogen, etwas zu trinken angeboten, was dankend abgelehnt wurde. Dann ging sie zögernd hinaus, nicht ohne in der Tür Friedrich noch einmal einen Blick zuzuwerfen. Er kannte diesen Blick – es lag eine Bitte darin und auch eine unmissverständliche Aufforderung: Vergiss nicht, wo du herkommst, Friedrich Weckerlin. Er nannte es den »Stadtmühlenblick« und er hasste ihn.
Frau Mössinger schaute ihn unverwandt an. Sie hielt ein weißes Taschentuch in der Hand, mit dem sie ab und an ihre Augen betupfte. Diese Augen, merkwürdig farblos, schwammen in Tränen und die Augenränder waren tiefrot. Die Frau hatte viel geweint.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Friedrich und bemühte sich, so freundlich wie möglich zu klingen.
Sie beugte sich etwas vor, ihre Hand umklammerte die Kante des Schreibtisches. »Sie wollen mir den Gustav wegnehmen, Herr Weckerlin. Er soll fort, in eine Anstalt! Der Herr Doktor hat mir das Papier gezeigt. Nächste Woche schon. Mein Gustav soll fort!« Die Tränen liefen ihr über die eingefallenen Wangen. Es war unheimlich, aber sie weinte völlig lautlos. Als ob sie gar keine Kraft mehr hätte, dachte er, die Tränen kamen von selbst, sie merkte es gar nicht.
»Nun mal langsam, Frau Mössinger, und der Reihe nach.« Er musste sie vor allem beruhigen. Aber es gab nicht vielzu erzählen. Gustav Mössinger, geistig behindert seit seiner Geburt, mongoloid, wie es die Ärzte nannten, sollte in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen werden. Umständlich kramte Frau Mössinger aus ihrer wuchtigen, altmodischen Handtasche das »Papier« heraus. »Angeborener Schwachsinn«, stand da und dass »die unverzügliche Unterbringung in einer entsprechenden Anstalt« zu erfolgen habe.
»Dass etwas mit meinem Gustävle nicht stimmt, das weiß ich doch selber, weiß ich
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