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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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seit dem Moment, als ihn mir die Hebamme in den Arm gelegt hat. Aber sagen Sie selbst, Herr Weckerlin, hat mein Gustav in seinem Leben irgendjemandem etwas getan? Ist doch die Freundlichkeit und Gutmütigkeit selber.«
    Vor Friedrichs Auge tauchte das Bild eines schwerfälligen, dicken, klein gewachsenen Mannes mit einem seltsam alterslosen Kindergesicht auf. Die Schulkinder pflegten ihn zu necken, aber er verlor nie das freundliche Grinsen auf dem breiten Gesicht. Das »Chinesle« ging gerne auf alle möglichen Passanten zu, um ihnen herzlich die Hand zu drücken. Dabei stieß er eigenartig gutturale Laute aus, die wohl seine Freude ausdrücken sollten. Er war ein freundlicher Mensch, dieser Gustav Mössinger, einer, der in seiner eigenen Welt lebte und der die Menschen vorbehaltlos liebte. Es war auch schon vorgekommen, dass man Steine nach ihm geworfen hatte. Er stand dann traurig da und sagte nur leise: »Aua, aua«, aber er wirkte eher erstaunt als bekümmert, und wenn ein Grunbacher Zeuge des Vorfalls wurde, griff er sich sofort die Betreffenden, meistens halbwüchsige Jungen, und verabreichte ihnen eine Ohrfeige. Das Gustävle gehörte zu Grunbach wie der Kirchturm. Erst letzthin hatte der Doktor bei einer Abendgesellschaft gemeint, der Gustav habe ein für seine Krankheit erstaunliches Alter erreicht, das liege sicher an der aufopfernden Fürsorge seiner Mutter und an der Tatsache, dass der Gustav ein außergewöhnlich glücklicher Mensch sei.
    Friedrich bemerkte, dass Frau Mössinger in der Zwischenzeit verstummt war und ihn erwartungsvoll ansah.
    »Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun, Frau Mössinger?«, fragte er und konnte einen leichten Anflug von Gereiztheit nicht unterdrücken. Was ging ihn letztlich das »Chinesle« an?
    »Sie kennen doch die Leute«, sagte Frau Mössinger, wobei sie offen ließ, wen sie damit meinte. »Der Herr Pfarrer hat mir nicht helfen wollen, hat sogar das Papier mitunterschrieben.« Sie wischte den Bogen mit einer verächtlichen Geste weg, dass er über den Schreibtisch rutschte und genau vor Friedrich zu liegen kam. Er konnte den Adler und das Hakenkreuz erkennen und das Wort »Rasse« leuchtete ihm förmlich entgegen, die weiteren Buchstaben waren aber nicht zu entziffern, weil das Papier an der Stelle umgeknickt war. Es war ein offizielles Schreiben und er nahm es an sich, weniger um es zu lesen, als um die Frau auf der anderen Seite des Schreibtisches zu beruhigen, die sich immer wieder die Augen wischte und zu zittern begonnen hatte.
    Sie setzte stockend ihre Rede fort: »Die Leute, meine ich – den Ortsgruppenleiter und die von der Kreisleitung und noch viel Höhere. Sagen Sie denen, dass mein Gustav niemandem etwas tut und dass er bei mir bleiben muss. Er würde sich doch fürchten, wenn er fortmuss, in dieses Grafeneck, und das ist doch auch so weit weg von Grunbach, irgendwo auf der Alb. Mein Gustav und ich, wir gehören doch zusammen«, fügte sie leise hinzu und starrte ihn aus ihren wässrigen Augen an. Friedrich wandte sich ab, er konnte diesen Blick nicht ertragen. Geistesabwesend spielte er mit dem Papierbogen. »Sie haben ihren Gustav sehr lange bei sich gehabt, Frau Mössinger, und Sie werden auch nicht jünger. Dort kann man gut für ihn sorgen.« Er merkte selber, wie hohl seine Worte klangen. Warum sollte der Gustav eigentlich fort? Er war doch wirklich harmlos. Bei Gelegenheit musste er den Brenner fragen, den Ortgruppenleiter. Die Nazis mit ihrem Rassenwahn! Das mit Guste damals ... Aber er schob den Gedanken rasch beiseite.
    Bei seinen letzten Worten hatte Frau Mössinger wieder zu zittern begonnen, also musste er es anders anfangen. »Ich werde sehen, was sich tun lässt, Frau Mössinger«, sagte er und schob ihr den Brief zu. Er erhob sich und sie stand ebenfalls auf, ganz klein und gebückt stand sie vor ihm, und für einen Moment spürte er tiefes Mitleid. Dann sah er auf einmal wieder die steilen Kartoffeläcker vor sich, die schmutzverkrusteten Körbe, mit denen sie keuchend die Erde nach oben geschafft hatten, sah ein paar Hände, die ihm Kartoffeln anboten.
    Den Teufel würde er tun, sich für Gustav Mössinger aus dem Fenster zu lehnen, einen Idioten, der vielleicht gar nicht mitbekam, was mit ihm geschah. Er hatte genug Sorgen mit der eigenen Familie. Emma und Aurelie mussten weg, das war ihm in der letzten halben Stunde klar geworden. Sie waren hier nicht mehr sicher, wenn schon einer wie Caspar sich hinstellte und unverhohlen drohte! Und

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