Beerensommer
wenn es wirklich Krieg gab ... Nein, er hatte jetzt Wichtigeres zu tun.
Er beugte sich zu Frau Mössinger hinunter und sagte in möglichst verbindlichem Ton: »Wollen sehen, was sich tun lässt. Und jetzt gehen sie nach Hause und beruhigen sich, Frau Mössinger.«
Friedrich rief nach Gretl, aber sie antwortete nicht. Vielleicht steckte sie im Keller oder war draußen im Garten. Deshalb begleitete er Frau Mössinger selbst zur Tür. Beim Abschied hielt sie seine Hand fest und richtete noch einmal ihre schwimmenden Augen flehend auf ihn: »Und Sie reden mit denen, nicht wahr, Herr Weckerlin?«
Aber er antwortete ausweichend und dachte die ganze Zeit nur an Emma. Warum war er so sicher gewesen, sein Name könne sie schützen? Warum hatte er sich eingebildet, die guten Kontakte könnten diese Maschine des Terrors zumindest vor seinem eigenen Haus aufhalten? Über den Charakter des Regimes konnte man sich keine Illusionen mehr machen. Hitler hatte von der Schande gesprochen. Dass man diese Schande überwinden und über die Feinde Deutschlands triumphieren könne. Und er war darauf hereingefallen, hatte sich mit seinen Verletzungen in diesem Geschwätz wiedergefunden. Dabei ging es nur um Vernichtung und Macht.
Siegfried und die alten Löwensteins hatten recht gehabt. Aber er konnte nicht mehr zurück. Er musste seine Familie schützen, und er spürte Angst, er spürte eine richtige, tief sitzende Angst wie noch nie zuvor in seinem Leben! Wenn es so weiterging, nützten ihm weder sein Geld noch die Kisten mit den Zigarren und mit dem französischen Cognac. Emma und Aurelie mussten weg, am besten in die Schweiz. Er musste Geld lockermachen, nicht zu viel auf einmal, das würde auffallen. Sie würden eine kleine Urlaubsfahrt nach Badenweiler unternehmen, zur Kur. Und dann mussten sie über die Grenze. Die Schweizer ließen fast niemanden mehr herein, aber vielleicht ging es illegal, so wie bei Siegfried. Oder er schickte Emma nach Davos, wegen ihrer angegriffenen Lungen. Irgendein Doktor würde ihm schon ein Attest schreiben. Die Schweizer ließen sie vielleicht für unbestimmte Zeit im Sanatorium, wenn sie nur genügend Geld hatte. Wer Geld hatte, konnte in der Schweiz bleiben. Er musste planen, genau nachdenken.
Mitten in seine Überlegungen hinein klingelte es wieder an der Haustür. Er würde selber öffnen. Vielleicht war Frau Mössinger noch einmal zurückgekommen, wollte ihm das »Papier« in die Hand drücken, das sie vorhin wieder geistesabwesend in ihre altertümliche Handtasche gestopft hatte. »Damit Sie genau wissen, um was es geht, Herr Weckerlin. Damit Sie sehen können, was die geschrieben haben.«
Ungehalten riss er die schwere Haustür auf und erstarrte. Da stand er, der Junge, stand direkt vor ihm! Der Junge, den er heimlich belauschte, heimlich vom Zimmer seines Schlafzimmers aus beobachtete, von wo man den oberen Teil von Johannes’ Wiese und den Weg nach Hofen sehen konnte. Er belauschte ihn und beobachtete ihn wie ein Liebeskranker die Angebetete seines Herzens. Einmal mit ihm sprechen, ihm einmal ganz nahe sein, hatte er immer wieder gedacht – und jetzt stand er dicht vor ihm und er blickte in dieses Gesicht und diese Augen, es waren sein Gesicht und seine Augen! Die Ähnlichkeit war wirklich verblüffend, Gretl hatte recht gehabt. Er war hoch gewachsen, war fast schon so groß wie er. Wie alt war er jetzt? Friedrich rechnete fieberhaft. Fünfzehn musste er sein, schon fast ein junger Mann. Er trug die Uniform der Hitlerjugend und in der Rechten hielt er eine Sammelbüchse.
Der Junge schien mindestens ebenso verblüfft zu sein wie er. »Ach, Sie sind es selbst, Herr Weckerlin«, sagte er schließlich zögernd, nachdem Friedrich keine Anstalten machte, das Schweigen zu durchbrechen.
»Entschuldigen Sie die Störung, aber wir sammeln für das Winterhilfswerk und da ...«
»Komm herein«, flüsterte Friedrich mit heiserer Stimme und öffnete die Tür ganz weit. Er hatte plötzlich eine wahnsinnige Angst, diese erste Begegnung mit seinem Sohn könnte von jemandem beobachtet, ja, gestört werden. Hier im Halbdunkel der großen Eingangshalle fühlte er sich sicherer. Wenn nur Gretl nicht dazukäme oder Lene! Der Junge blickte sich scheu um. Für einen Moment überkam Friedrich die irrwitzige Idee, der andere müsse jetzt auf der Stelle die Wahrheit erkennen: dass er vor seinem Vater stand, vor seinem leiblichen Vater, dem er so ähnlich sah! Aber Georg blieb unbefangen, etwas schüchtern
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