Beerensommer
vielleicht angesichts des imposanten Raumes und wohl auch, weil sich der reiche und angesehene Herr Weckerlin so merkwürdig benahm. Starrte ihn die ganze Zeit an und redete nichts.
»Also, wie gesagt«, fing er von Neuem an und hob einladend die Sammelbüchse. »Wir sammeln für das Winterhilfswerk und ich möchte Sie um eine kleine Spende bitten. Sonst ist immer Gretl da, ich meine, Fräulein Haag«, fügte er erklärend und quasi als Entschuldigung hinzu. »Wenn ich also ungelegen komme?«
»Nein, nein!« Friedrich fuhr empor, als sei er soeben aus einem Traum aufgewacht. »Du kommst ganz gelegen. Warte einen Moment, ich muss nur meine Brieftasche ...«
Er tat so, als suche er in seinen Anzugtaschen, klopfte sein Jackett ab, obwohl er genau wusste, dass er sie in die Gesäßtasche gesteckt hatte. Zeit gewinnen, dachte er, Zeit. Ich will, dass er noch dableibt. Los, rede mit ihm, frage ihn etwas – Zeit gewinnen! Er musste sich mehrere Male räuspern, bis er schließlich mit brüchiger Stimme seine Frage hervorbrachte. Wie es seinem Vater und seiner Mutter gehe. »Und deiner Schwester natürlich auch. Anna heißt sie wohl?« Ohne Georgs Antwort abzuwarten, fuhr er hastig fort: »Ich sehe euch manchmal auf dem Waldweg oben, wenn ihr Richtung Hofen geht. Dort wohnt eure Großmutter, nicht wahr? Ich habe auch eine jüngere Schwester, Emma heißt sie. Früher hat sie mich oft geärgert. Schwestern können eine rechte Plage sein ...« Er redete und redete und sah das wachsende Erstaunen in Georgs Blick. Was schwatze ich denn da?, dachte Friedrich, der Junge muss denken, dass ich ein kompletter Idiot bin. Aber er redete weiter – Zeit gewinnen. Schließlich hielt er für einen Moment inne und Georg nutzte die Pause, um nachzufragen: »Sie kennen meine Eltern näher?«
Also haben sie gar nichts von mir erzählt, überlegte Friedrich. Nichts von unserer Freundschaft, nichts von unserer Jugend! Er war auf einmal traurig, todtraurig. Aber was konnte er auch erwarten? Für den Jungen war er nichts weiter als der angesehene Herr Weckerlin, der Sägewerksbesitzer, der großzügige Spender für HJ, BDM, Jungvolk, Frauenschaft und was es sonst noch gab. Er konnte sich wahrscheinlich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen, dass der reiche Herr Weckerlin auch einmal arm gewesen war, sogar in der Stadtmühle gehaust hatte. Und was sollte er jetzt auf diese Frage antworten? So sagte er lediglich knapp: »Ja, von früher«, und förderte schließlich seine Brieftasche zutage, denn er spürte die wachsende Ungeduld des Jungen. Er zog ein Bündel Geldscheine heraus und stopfte sie hastig und verlegen in die Sammelbüchse.
»Vielen Dank, Herr Weckerlin, das ist sehr großzügig.« Die Augen des Jungen irrten hinüber zur Haustür. Friedrich stand da, die Brieftasche in der Hand. Bleib, wollte er rufen. Bleib noch! Komm, ich zeige dir mein Haus. Lass uns noch reden. Ich weiß doch gar nichts von dir. Und für einen Moment spürte er den fast übermächtigen Impuls, jetzt in diesem Augenblick die Wahrheit zu sagen. Dem Jungen zu sagen, dass er sein Vater war. Unsinn!, schalt er sich im selben Moment, so zwischen Tür und Angel geht das nicht. Er riss sich gewaltsam aus seiner Erstarrung. Was musste der Junge nur von ihm denken? »Du kannst jederzeit wiederkommen!«, rief er ihm im Hinausgehen nach. Was für eine blödsinnige Bemerkung! Warum sollte ein fremder Junge einfach so wiederkommen? Georg lief schnell die kiesbestreute Auffahrt hinunter. Wahrscheinlich war er froh, diesem Haus und seinem seltsamen Besitzer den Rücken kehren zu können, trotz der großzügigen Spende.
Langsam stieg Friedrich nach oben, ging in sein Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich ab. Er trat ans Fenster und begann zu weinen. Das letzte Mal, dass er geweint hatte, war beim Tod von Wilhelm gewesen. Nie mehr, hatte er sich damals geschworen, nie mehr in meinem Leben werde ich heulen. Aber jetzt musste er weinen, er kam einfach nicht dagegen an, er wurde förmlich überwältigt von der Trauer um all das, was er verloren hatte, er, der reiche Friedrich Weckerlin.
44
Anna stapft den Berg hinauf zu Johannes’ Haus. In der Hand hält sie eines der schmalen Bücher mit dem schwarzen Wachstucheinband. Das letzte Kapitel hat sie gestern Nacht noch kurz überflogen, einfach, weil sie zu neugierig war. Das erste flüchtige Durchlesen hat ihr bestätigt, was sie insgeheim geahnt hat. Stimmte das wirklich? Hat sie vermutet, was da jetzt schwarz
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