Begegnung in Tiflis
Schulen geschickt, du konntest dein Abitur machen. Und sie hat das alles geschafft, weil sie hinterm Ladentisch stand, jeden Tag, von acht Uhr morgens bis sieben Uhr abends. Für dich. Und jetzt wirfst du ihre Liebe weg wie einen faulen Kürbis. O Gott, Junge, ich sollte dir jetzt, hier, vor deinen Offizierskameraden, noch eine herunterhauen!«
Wolfgang Wolter schwieg. Er sah aus dem Fenster auf die grünen Rasenflächen vor dem Ministerium. Über sein Gesicht zuckte es.
»Was sagt Irene?« fragte er leise.
»Sie ist mit mir nach Bonn zurückgekommen. Ich glaube nicht, daß sie dich in die Wohnung läßt, wenn du mit Mutter nicht anders verfährst.«
»Also alle gegen mich?«
»Wenn du es so siehst, brauchen wir gar nicht weiterzusprechen. Du benimmst dich wie ein dummer, trotziger Junge.«
»Ich werde mit dem General darüber sprechen, Vater.«
»Was hat der General damit zu tun?«
»Er entscheidet allein, ob ich mit Dimitri in einer Familiengemeinschaft leben darf.«
»Wohlan.« Wolter erhob sich. »Dann rede ich mit dem General!«
»Um Gottes willen, Vater!« Wolfgang Wolter zog ihn auf den Stuhl zurück. »Bloß das nicht! Außerdem wirst du nicht vorgelassen. Nur wenige kennen den General, und auch ich kenne sein Gesicht nur mit einer dicken Sonnenbrille. Aber vielleicht wird er einmal Dimitri sprechen wollen.«
»Das kann er! Bettina bringt ihn zurück.« Wolter stand wieder auf und sah auf die blonden gelockten Haare seines Sohnes. Eigentlich war er stolz auf diesen Jungen, aber das Gefühl mußte jetzt unterdrückt werden. »Und ich?« fragte er hart. »Soll ich zu Mutter mit leeren Händen zurückkommen? Was bringe ich von der Reise mit?«
»Einen Gruß, Vater.« Wolfgang Wolter sprang auf, und plötzlich umarmte er seinen Vater und gab ihm einen Kuß auf die faltige Stirn. »Und sag Mutter, zum Wochenende bin ich wieder in Göttingen.«
Zufrieden verließ Karl Wolter das Ministerium. Selbst der Gedanke an die Millionen, die ›Pentabonn‹ gekostet hatte, regte ihn nicht mehr auf.
Seht, Freunde, so subjektiv ist ein Mensch, ob er nun Ludwig Maier oder Karl Wolter oder Kolka Iwanowitsch Kabanow heißt.
*
An dem Tage, an dem Jurij Alexandrowitsch Borokin zugreifen und Dimitri nach alter, aber immer noch guter Agentenmanier in einen langsam fahrenden Wagen zerren wollte, fand sich Borokin allein in Göttingen.
Dimitri Sotowskij war weg.
Zwei Tage wartete Borokin vor dem Haus, umschlich es wie eine Katze den Milchtopf, legte sich auf die Lauer wie ein Wolf, der eine Hammelherde aus der Ferne wittert – aber kein Dimitri kam mehr aus dem Haus.
Der Fahrer des Entführungswagens schließlich erfuhr als Käufer von drei Frottierhandtüchern im Geschäft der Agnes Wolter, daß Dimitri verreist sei. Wohin, das sagte keiner.
Borokin fuhr zurück nach Bonn und meldete es nach Moskau. Und Moskau antwortete so, wie es Borokin befürchtet hatte: Wir erwarten die Meldung, daß Sotowskij unschädlich gemacht ist und sich in unseren Händen befindet!
Wer die russische Befehlssprache kennt, weiß, daß das Leben Borokins auf dem Papier bereits erloschen war. Schon ein normaler Mensch ist gefährlich, wenn er Unfähigkeit beweist – ein unfähiger Offizier aber ist ein Übel fürs ganze Volk. Ein Geschwür, das man entfernt. Verwunderlich war nur, daß Borokin nicht abberufen wurde, sondern weiter mit dem Auftrag betraut war. Das war allein Oberst Jassenskij zu verdanken, der kein Interesse daran hatte, Borokin im Kreml erzählen zu lassen, was er, Jassenskij, für eine Riesendummheit mit dem Sarg der falschen Bettina Wolter verursacht hatte. Die Mißerfolge wogen sich gegenseitig also auf, und so lebte Borokin weiter mit einem Druck im Nacken, der unbeschreiblich war.
Eine Stunde lang verbrachte Borokin sogar mit dem verständlichen Gedanken, sich selbst umzubringen. Dies erschien ihm erträglicher als alles, was man eventuell in Moskau für ihn bereit hielt. Aber dann verwarf er den Gedanken, nicht aus Feigheit, denn feig war Borokin nicht, sondern aus Verzweiflung und purem Lebenswillen.
Noch lebt Dimitri irgendwo, dachte er. Und solange er lebt, kann auch ich leben. Und dann dachte er plötzlich an Irene Brandes, und er wurde ruhig, zuversichtlich, ja innerlich sogar befreit von allem Druck.
Jede Festung hatte eine schwache Stelle in der Mauer, von hundert Türen lassen sich zwei bestimmt eintreten. Und keine Kette ist so fest, daß nicht ein Glied reißen könnte, wenn auch keiner weiß,
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