Begegnung in Tiflis
Abenteuer?
Es war nur die Verzweiflung um Dimitri … und eine Liebe, für die es keine Worte mehr gibt.
*
Das Ende Jurij Alexandrowitsch Borokins war gekommen. Er hatte es erwartet, und er trug es mit Fassung, wie ein echter Russe, wie ein sowjetischer Offizier.
Wolfgang Wolter hatte seine Braut Irene Brandes eine Stunde nach Borokins Weggang noch immer ohnmächtig auf der Couch gefunden. Nachdem er dreimal angerufen hatte und immer das Besetztzeichen ertönte, war er unruhig geworden und trotz seines Nachtdienstes zu Irene gefahren. Schon während der Fahrt dachte er an Borokin. Um ihn war es in den letzten Wochen so still geworden, das schien verdächtig. Das deutete auf einen veränderten sowjetischen Plan, den keiner kannte.
Nun sah man plötzlich klarer. Die Mißhandlung Irenes, die Frage Borokins nach Dimitri Sotowskij, die Verlagerung der Agententätigkeit von dem nun uninteressant gewordenen deutschen Oberleutnant auf den für die Russen anscheinend wichtigeren Flüchtling aus Liebe ließen vermuten, daß Borokin den Auftrag erhalten hatte, massiv zu werden und notfalls aus dem Schatten der versteckt arbeitenden Spionage herauszutreten. Mit anderen Worten: Borokin wurde gefährlich. Er war zu einem jagenden Wolf geworden.
»Er genießt den Status eines Diplomaten«, sagte der Chef des MAD zu Wolfgang Wolter, der in der Nacht noch um die Erlaubnis bat, Borokin bei der nächsten Gelegenheit auszuheben.
»Er hat Irene zugerichtet wie ein Vieh!« schrie Wolter. Seine Wut kannte keine Grenzen mehr. »Es ist unmöglich, einen solchen Kerl straffrei ziehen zu lassen. Ich werde mit ihm abrechnen.«
»Das würde Sie die Uniform und den Offiziersrang und Ihren Job kosten. Wir müßten Sie bestrafen wie einen normalen Verbrecher, Oberleutnant Wolter. Sie kennen doch die Spielregeln.« Der Oberst schüttelte den Kopf, als er Wolfgangs Augen sah. »Haß ist kein guter Berater.«
»Sie haben Irene nicht gesehen, so wie ich sie gefunden habe, Herr Oberst«, knirschte Wolter. »Wenn es Ihre Gattin – ich bitte um Verzeihung – oder Ihre Tochter gewesen wäre …«
»Wir sind Soldaten, Wolter. Persönliche Gefühle haben zurückzutreten ins dritte Glied! Natürlich würde ich empfinden wie Sie – aber erst kommt die Vernunft.«
»Er darf also mißhandeln, wenn es sein muß, sogar töten, und kommt straffrei aus. Nur, weil er den diplomatischen Status hat? Ist der Diplomatenpaß ein Freibrief?«
»Bei gewissen Nationen ja. Es ist nun einmal so, mein lieber Wolter. Faust in der Tasche geballt, das ist alles. Und wenn Sie sich abreagieren müssen, dann gehen Sie in die Turnhalle und boxen Sie am Sandsack.« Der Oberst sah auf den grünen Schnellhefter, der das Zeichen O/III-b enthielt. Die Akte Borokin. »Wir werden jetzt das Auswärtige Amt benachrichtigen und den Vorgang überstellen. In achtundvierzig Stunden wird er die Bundesrepublik verlassen haben, als unerwünschte Person. Vielleicht tröstet es Sie, Wolter, daß die Sowjets mit Versagern wie Borokin nicht gerade glimpflich umgehen.«
Wolfgang Wolter schwieg. Was in Rußland mit Borokin geschah, war ihm gleichgültig. Irene lag im Krankenhaus. Schlimmer als ihre an sich harmlosen Verletzungen war der Schock, den sie davongetragen hatte. In Abständen von zehn Minuten schrie sie immer wieder auf und bettelte dann mit unverständlichen Worten wie um Gnade. Was im einzelnen mit ihr geschehen war, konnte noch nicht festgestellt werden. Sie gab keine Antworten, sondern starrte jeden, auch Wolfgang, wie einen Fremden an, mit weiten, entsetzten, glasigen Augen. Nur »Borokin! Borokin!« sagte sie ganz deutlich.
Zwei Tage lauerte Wolfgang Wolter in Rolandseck auf Jurij Alexandrowitsch Borokin. Er saß in seinem Wagen an der Ausfahrt des Privatweges, der zu dem weißen Schlößchen der sowjetischen Botschaft führte. Wie er handeln würde, wenn Borokin wirklich die Straße herunterkam, wußte er nicht; er wollte es dem Augenblick überlassen. Bei seiner Dienststelle hatte er sich einfach krank gemeldet.
»Der Junge dreht durch!« rief der Oberst vom MAD, als er die Krankmeldung am Morgen auf dem Tisch liegen sah. »Nie und nimmer hat er die Grippe, jetzt, Ende September! Gestern war er noch gesund wie ein Baum. Meine Herren, schaffen Sie Wolter heran! Der Junge ist in einer Verfassung, in der Vernunftgründe nicht mehr akzeptiert werden.«
Die Kameraden Wolfgang Wolters bemühten sich einen Tag lang redlich, ihn zu finden. Aber in Göttingen war er nicht
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