Begegnung in Tiflis
falsch, was man über die Russen sagt, dachte sie. Alles nur Hetzpropaganda. Es sind liebe, zuvorkommende Menschen. Ich werde es Wolfgang einmal ganz deutlich sagen müssen.
»Ein guter Kaffee«, sagte sie nach dem ersten Schluck. Viel Schlagsahne hatte sie genommen. Borokin lächelte still. Es war ein zufriedenes Lächeln … aber an seine eigene Mutter dachte er nicht.
»Ihre Tochter ist in Moskau. Gesund und munter.«
»Das ist schön.« Agnes Wolter holte aus der schwarzen kleinen Wildledertasche auf ihrem Schoß ein Taschentuch. Nicht weinen, dachte sie. Nein, du darfst nicht weinen. Auch nicht vor Freude, daß Bettina lebt und gesund ist. Du mußt tapfer sein, Agnes.
»Warum lassen Sie sie dann nicht zurück nach Deutschland?« fragte sie geradezu.
Borokin setzte sich ihr gegenüber und rauchte eine Zigarette an. »Das ist nicht so einfach. Wenn es nach mir ginge … sofort, gnädige Frau. Aber die Politik!«
»Meine Tochter ist eine einfache Stewardeß.«
»Gewiß. Aber in dem abgestürzten Flugzeug befand sich antisowjetisches Propagandamaterial. Flugblätter, Hetzzeitungen, Spottbilder. Das muß erst geklärt werden.«
»Das wußte ich nicht«, sagte Agnes Wolter leise. »Das hat mir auch niemand gesagt.«
»Ich habe das auch gar nicht anders erwartet.« Die Stimme Borokins war weich wie ein Streicheln. »Man wird sich doch nicht blamieren.«
»Weiß die Fluggesellschaft DBOA es?«
»Natürlich.«
»Auch sie haben mir das verschwiegen.«
»Es ist eine Gemeinheit, eine sorgende Mutter in solcher Ungewißheit zu lassen.« Borokins Stimme zitterte wahrhaftig voll Bitterkeit. »Wir Russen tun alles, um diese peinliche Affäre aus der Welt zu schaffen. Aber darüber vergeht eben Zeit, weil der Westen so unehrlich ist. Leidtragende sind Ihre Tochter Bettina und Sie, verehrte gnädige Frau. Ich drücke Ihnen mein tiefstes Mitgefühl und die Empörung meiner Regierung aus. Ihre Tochter ist ein Opfer der immer uneinigen Politiker.«
»Und was soll nun werden?« fragte Agnes Wolter kläglich.
»Wir müssen warten, gnädige Frau.«
»Wie lange?«
»Ich hoffe, daß in ein paar Wochen alles vorbei ist und wir Ihre Tochter nach Deutschland fliegen lassen können.«
»Ein paar Wochen noch …« Agnes Wolter weinte nun doch, obwohl sie es nicht wollte. Aber die Erregung in ihr war stärker. Borokin ließ sie weinen, rauchte seine Zigarette und dachte an Wolfgang Wolter, der irgendwo an der Zonengrenze etwas Geheimnisvolles tat, was Borokin unruhig machte. »Darf sie denn Post empfangen?«
»Aber ja. Ihre Tochter ist doch ein freier Mensch in einem freien sozialistischen Land. Sie ist Gast der Sowjetunion; ein entzückender Gast außerdem.«
Agnes Wolter nestelte einen Brief aus ihrer Handtasche. Sie legte ihn auf den Tisch, und Borokin beugte sich vor, nahm ihn an sich und las die Anschrift ›Fräulein Bettina Wolter‹.
»Wenn Sie die Adresse ergänzen und den Brief weiterleiten könnten, Herr Borokin«, sagte Agnes Wolter. Sie hielt ein Portemonnaie in den Händen und drehte es nervös zwischen den Fingern. »Was kostet das Porto?«
»Aber ich bitte Sie, gnädige Frau!« Borokin sprang auf und legte den Brief deutlich sichtbar auf seinen Schreibtisch. »Ihr Brief geht natürlich mit diplomatischer Kurierpost heute noch und kostenlos nach Moskau.«
»Mit Kurierpost …« Agnes Wolter sah Borokin dankbar an. Dann sprang sie plötzlich auf, streckte ihm beide Hände entgegen und hätte ihn fast umarmt. »Ich danke Ihnen«, rief sie, und die Tränen liefen ihr wieder über die Wangen. »Ich danke Ihnen. Sie sind ein so guter Mensch. Sie wissen, wie es einer Mutter ums Herz ist. Haben Sie auch noch eine Mutter?«
»Ja«, sagte Borokin. »In Kiew.«
»Und einen Vater?«
»Nein, er fiel bei der Eroberung von Danzig.«
»Auch mein Mann ist gefallen. In russischer Gefangenschaft gestorben.«
»Der Krieg ist ein Verbrechen, gnädige Frau«, sagte Borokin elegant. »Damit es diese Opfer nie mehr gibt, kämpfen wir jetzt um den Frieden.«
»Gott möge Ihnen dabei helfen!«
Agnes Wolter trank noch zwei Tassen Kaffee mit einem Berg Schlagsahne darauf; dann brachte sie Borokin selbst bis auf die Straße und zu der dort außerhalb des Botschaftsbereichs wartenden Taxe.
»Sie können ganz beruhigt sein«, sagte er zum Abschied. »Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht.«
Agnes Wolter setzte sich glücklich in den Wagen, ja, sie winkte durch das Rückfenster, als der Wagen anfuhr. Und Borokin
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