Begegnungen (Das Kleeblatt)
Fälle hätte er es verdient.
Sie grub die Zähne in ihre Unterlippe und starrte ihn eine ganze Minute lang an. Schlagartig verspürte sie das Bedürfnis, hysterisch loszubrüllen, unterdrückte es jedoch heroisch und erwiderte tonlos: „Das fragst du? Das fragst du mich jetzt ? Nachdem wir … seit einem halben Jahr … Tu bloß nicht so, als hättest du das nicht von Anfang an gewusst! Die Ärzte sahen keine Notwendigkeit …“
„Normalerweise sollte man aus Schaden klug werden. Vor diesem Di lemma hast du schon einmal gestanden, wenn ich nicht irre.“ Und wann tat er das je?
Wie von der Tarantel gestochen fuhr sie in die Höhe und machte einen Schritt auf Adrian zu. Sie zitterte am ganzen Körper, was ihn nicht zu berühren schien. Übelkeit stieg ihre Kehle hoch. „Das wolltest du nicht sagen.“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein raues Flüstern. „Bitte, Adrian, sag mir, dass du mir nicht absichtlich wehtust. Ich kenne dich, so etwas würdest du nicht übers Herz bringen, nicht wahr?“
Ihre Hände griffen nach ihm , aber er bekam sie an den Handgelenken zu fassen, ehe sie ihn berühren konnte, und zuckte gleichzeitig zurück. Eines war ihm klar: Wenn er jetzt etwas erwiderte, sich entschuldigte, diese Frau in die Arme nahm und ihr die Wahrheit und noch mehr sagte …
Nein! Das durfte er nicht!
Er knallte dem nagenden Schuldbewusstsein, das in einem fernen Winkel seines Inneren aufkeimte, die Tür vor der Nase zu. Grob stieß er Suse von sich und trat zurück, weil er Angst hatte, sich zu verraten.
In diesem Augenblick wollte sie nur noch eins, ihn verletzen. Er sollte sich genauso elend fühlen wie sie. A ndererseits wollte sie auch die Wahrheit wissen. Sie hatte es satt, vergeblich auf Antworten zu warten, alleine zu planen und ständig zu versuchen, seine Gedanken zu lesen. Es war beängstigend und gleichzeitig herrlich befreiend, als sie sich die Worte sagen hörte, die sie so lange schon beschäftigt hatten.
„Warum hasst du mich?“
Einen Moment lang schien er sprachlos. „Ich hasse dich nicht“, antwortete er schließlich.
„Und doch tust du es“, erwiderte sie. „Es ist nicht gerade höflich, so etwas jemandem ins Gesicht zu sagen, aber das ist mir egal. Ich weiß, ich sollte dir dankbar sein, weil du mir zweimal das Leben gerettet hast. Auch das ist mir egal. Ich hab dich schließlich nicht darum gebeten. Und mir ist völlig schleierhaft, aus welchem Grund du es getan hast, wenn deine Gefühle mir gegenüber so hasserfüllt sind.“
Er schüttelte den Kopf, seine Stimme war sanft und unsicher. „Ich hasse dich nicht, Sanni.“
„Ich wollte freundlich zu dir sein und dein Leben bunter machen, ich habe dir mein Herz geschenkt und was war der Dank dafür? Wenn es nicht um Leben und Tod gegangen wäre, hättest du auch auf der ‚Fritz Stoltz‘ nicht mit mir gesprochen. Muss man so weit gehen, um dir ein Wort zu entlocken? Muss man sich fast umbringen lassen? Und selbst jetzt, da wir zusammengezogen sind, meidest du meine Nähe“, fuhr sie bitter fort. „Was ist los mit dir, dass du ein solches Leben führen musst? Dass du Mauern um dich errichtest, damit die anderen dir bloß nicht zu nahe kommen? Dass du niemandem trauen kannst? Was stimmt nicht mit dir?“
Sie holte zittrig Luft und richtete sich mit erhobenem Kopf kerzengerade auf, obwohl in ihren Augen Tränen brannten. „Was stimmt nicht mit mir , dass du mich nicht mal ansehen willst? Sag es mir und ich werde dich nie wieder belästigen.“
Er drehte sich langsam um und hob den Kopf. Sein Blick war leer und wider Willen wurde sie von der Qual berührt, die seine Züge überschattete. Sie konnte spüren, wie viel Mühe es ihn kostete, ruhig zu bleiben. Er sah ihr in die Augen und sie dachte: Ist es nicht möglich, mir die Wahrheit zu sagen? Was kann so schlimm sein?
Und dann schwiegen sie sich an – wieder einmal.
Hatte sie denn tatsächlich erwartet, er würde sie vor Freude durch die Luft schwenken , wenn sie ihm von dem Baby erzählte? Dass er mit ihr lachen und im Überschwang durch die Wohnung tanzen würde? Vor lauter Begeisterung Pläne für eine Zukunft zu dritt schmiedete? Solch einen Gefühlsausbruch hatte er sich noch nie gestattet. Oder hatte sie gar damit gerechnet, er würde augenblicklich mit dem Trinken aufhören und sich einer Therapie unterziehen? Und sie anschließend erneut um ihre Hand bitten?
Äh, hallo, Erde an Suse. Wir sprechen hier von Adrian Ossmann, der dir bis zum heutigen Tag nicht ein
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