Begegnungen (Das Kleeblatt)
Kreis. Seit ihrem letzten Besuch hatte sich hier einiges verändert. Der Raum wurde jetzt beherrscht von einem riesenhaften, zu einem Halbrund geschwungenen Tisch aus Stahl und Chrom, auf dem Computer, Drucker, Scanner und Kopierer, Telefon und Faxgerät standen. Überdimensionale, flache Monitore waren an einer Wandseite befestigt, an der gegenüberliegenden nahm eine Weltkarte beinahe die gesamte Fläche ein.
Grundgütiger, was war denn das? Es war ihr schleierh aft, wozu ein normaler Mensch zwei Computer und zwei Laptops benötigte. Das Equipment hätte in ein modernes Großraumbüro gepasst, in die Schaltzentrale der Weltraumbehörde, aber doch nicht in die Wohnung eines Kochs!
Sie spürte, wie ihr Gesicht rot anlief. Adrian war kein normaler Mensch.
Wieder einmal traf sie die Bestätigung einer früher geäußerten Vermutung wie eine eiskalte Dusche. Sie hatte keine Ahnung, mit wem sie hier lebte.
Voll Neid streifte ihr Blick über die wandhohen Schränke und Regale sowie die Unterlagen und Bücher darin. Wie Zinnsoldaten standen Ordner, Klemmmappen und Hefte in Reih und Glied. Die sorgfältig beschrifteten Akten erweckten den absolut lächerlichen Eindruck, als wären sie exakt mit dem Lineal ausgerichtet. Es hätte Suse nicht verwundert, wenn Adrian tatsächlich mit einer Wasserwaage durch das Arbeitszimmer gedüst war, um ein hundertprozentig harmonisches Bild zu schaffen.
Natürlich, das sah ihm wirklich ähnlich. Was diese Seite betraf, hatte er sein Leben fest im Griff. Das war etwas, worauf er stolz sein konnte, höhnte sie in Gedanken , glänzte er doch in dieser Hinsicht mit absoluter Perfektion.
Und selbst in Bezug auf das Thema Ordnung waren sie beide absolut gegensätzlich. Während ihr der geradezu sterile Zustand des Zimmers fast den Atem nahm, hielt sich Adrian nirgends lieber auf als hier. Kein Wunder, dass es mit ihnen nichts werden konnte! Sie unterschieden sich in den wesentlichen Fragen des Lebens wie Tag und Nacht. Äußerliches Gleichmaß erschien Adrian wichtiger als alles andere auf dieser Welt, wichtiger zumindest als die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen.
Natürlich war er ebenfalls ein wundervoller Liebhaber, sie hatte es nicht vergessen, obendrein ein begnadeter Koch, aufmerksam, hilfsbereit und intelligent und … mmmh, doch irgendwie perfekt.
Bis auf diese eine Sache eben. Er würde nie ein guter Ehemann sein. Zumindest nicht für jemanden wie sie, die Geheimnisse und Schweigen nicht ertragen konnte.
Immer wieder sagte sie sich, es sei albern, ihm deswegen Vorwürfe zu machen, dass ihr Verhalten kleinlich war und es wichtigere Dinge gab. Zählte nicht viel mehr zu wissen, dass er sie beschützen und achten würde – trotz seiner etwas scheckigen Vergangenheit?
Sie machte einen Schritt auf ein Kontrollpult mit Schaltern und Knöpfen zu, noch immer nicht völlig überzeugt davon, durch ihre Anwesenheit keinen Alarm auszulösen.
Aus einem von zwei offenen Schubfächern zog sie nach kurzem Suchen einen zerknautschten Karton, in dem sie ihre eigenen Unterlagen vermutete. Halbherzig nahm sie ein paar zerfledderte Blätter heraus, Zeitungsausschnitte, uralte Schulaufgaben, eine Abi-Zeitung, Briefe und Fotos von ihren Freundinnen, und ließ die vergilbten Papiere durch ihre Finger gleiten, ohne sie bewusst wahrzunehmen.
Hatte sie eigentlich jemals persönliche Dinge von Adrian zu Gesicht bekommen? Sie konnte sich weder an Fotos oder Schulzeugnisse noch an private Korrespondenz erinnern. Er war nicht bloß ein notorischer Minimalist wie die meisten Seeleute, sondern führte ein unpersönliches Leben, gerade so als wollte er bewusst keinerlei Spuren auf dieser Welt hinterlassen. Immer in Hab-Acht-Stellung, als rechnete er damit, jeden Moment auf einen fahrenden Zug aufspringen zu müssen, wobei ihm selbstverständlich jegliches Gepäck im Wege wäre. Unnützes, ausschließlich der Bequemlichkeit Dienendes, störende Habseligkeiten wie eine Familie beispielsweise.
Suse hob den Kopf und ließ ihre Augen über die kahlen Stellen zwischen den Regalen und Schränken wandern. Nichts erregte ihre Aufmerksamkeit. Sogar die Bücher stellten sich als reine Nachschlagewerke heraus, die erstaunlicherweise kaum ein Fachgebiet ausklammerten. Medizin und Datenverarbeitung, Fluggerätetechnik und Archäologie, Mikrobiologie, Quantenoptik und – quasi als Alibi – ein Kochbuch. Ein einziges! Adrians Bibliothek erschien ihr wie eine Ansammlung von Büchern, die niemand sonst im Land lesen
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