Begegnungen (Das Kleeblatt)
gehüteten Geheimnisse lüften könnte und damit nicht bloß ihn, sondern genauso sie selber in Verlegenheit bringen würde.
Mit einer ungestümen Handbewegung wischte sie ihre Bedenken beiseite. Wenn er nicht wollte, dass sie in seinen Sachen stöberte, hätte er sein Arbeitszimmer besser abschließen sollen. Trotzdem wollte sie sich ausnahmsweise Mühe geben, alles wieder ordentlich zu hinterlassen, sodass er keinen Grund finden konnte, mit ihr unzufrieden zu sein.
Wo -war-die-Geburtsurkunde? Leichtsinnigerweise hatte sie dem Personalreferenten der Reederei versichert, bis spätestens gestern sämtliche Papiere zusammengesucht zu haben. Blamabel, wenn sie ihn jetzt anrufen müsste, um ihm mitzuteilen, aufgrund angeborener Abneigung gegen Ordnung sei sie nicht in der Lage …
Schietkram! Bist ein schönes Vorbild für dein Kind! Höchste Zeit, dass Adrian zurückkommt und zumindest diesen Teil der Erziehung seines Sohnes übernimmt.
Das Rückenschild der nächsten Mappe, die sie zwischen den Fingern hielt, war nicht beschriftet. Auf dem Deckblatt im Inneren allerdings hatte Adrian mit seiner akkuraten Handschrift „Mietwohnung Reichelt – Ossmann“ vermerkt. Als hätte er neben dieser auch eine Eigentumswohnung, kicherte Suse in sich hinein. Bevor sie umblätterte, studierte sie mit zusammengekniffenen Augen die wie gestochen wirkende, ebenmäßige Schrift. Irgendwie hatte sie so gar keine Ähnlichkeit mit der hastigen Kritzelei auf den Karten, die sie im letzten halben Jahr von ihm erhalten hatte. Sie schien zu einem völlig anderen Menschen zu gehören. Oder hatte das gar nicht Adrian, sondern der Vermieter der Wohnung geschrieben? Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie sich nie nach dessen Namen erkundigt hatte.
Sie seufzte und strich sich mit einer unbewussten Handbewegung eine Haarsträhne zurück, die ihr ins Gesicht gefallen war. Der übermäßige Alkohol und die starken Schmerztabletten hatten aus Adrian tatsächlich einen anderen Menschen gemacht. Ob es jemals wieder zwischen ihnen so werden würde wie zur Zeit ihres Kennenlernens auf der „Fritz Stoltz“? Oder war ihre aufrichtige Zuneigung und ehrliche Freundschaft mitsamt ihren Freunden Simone Schill und Svend Berner und dem Schiff untergegangen?
Herrgott nochmal, lass das Grübeln! Deine Therapeutin hat dir bereits vor zwei Jahren von diesem Gift abgeraten. Du hattest dich schon wesentlich besser unter Kontrolle.
„Oh nein !“
Ihr stockte der Atem , während sie auf das Blatt starrte, so lange und angestrengt, bis ihr die Augen tränten. Die Buchstaben verloren ihre Bedeutung und verwandelten sich in unverständliche Schnörkel. Suses Beine wackelten wie Pudding und gaben schließlich unter ihr nach. Blind tastete sie nach dem Drehstuhl in ihrem Rücken und ließ sich schwer wie ein Mehlsack darauf plumpsen.
Das konnte nicht wahr sein! Ein Irrtum, was sonst? Sie saß im falschen Film, oder? Das war doch einfach absurd! Sie beugte sich über den Ordner, verdeckte das obere Blatt mit den Armen und schloss die Augen. Mit offenem Mund holte sie einige Male tief Luft, weil sie befürchtete, jeden Moment aus den Latschen zu kippen. Einige Minuten saß sie vollkommen reglos und kämpfte gegen die Übelkeit und die Wahrheit an.
Erst dann wagte sie, v orsichtig zwischen ihren Unterarmen auf den Text zu schielen. Er war immer noch da. Und auch nach zehnmaligem Lesen war und blieb der Name des Eigentümers und Vermieters dieser Wohnung …
Doktor …
Sie rubbelte sich heftig über die Augen und keuchte voller Verzweiflung, als sie spürte, wie ihre verschwitzten Handflächen eiskalt wurden.
„Doktor ingenieur Matthias Emanuel Clausing“, las sie laut und stieß ein heiseres Jaulen aus, das selbst einen Leitwolf beschämt hätte.
Oh, Scheiße! Matthias Großkotz Clausing! Herr Doktor von und zu! Dieser arrogante Schuft, dieses selbstgefällige Ekel vermietete seine Wohnung und belegte sie gleichzeitig selber, während er von Adrian und ihr fleißig die Miete einstrich!
Matthias Emanuel. Meine Güte, was glaubte der eigentlich, wer er war? Plötzlich hielt sie das für eine verdammt gute Frage. Wer war er in Wirklichkeit? Wer zur Hölle waren die beiden Kerle, die mit ihr in einer Wohnung lebten?
Ganz deutlich sah sie die letzte Postkarte, die sie von Adrian erhalten hatte, vor ihrem inneren Auge. In seinen wenigen Zeilen hatte er sie gebeten, seinen Sohn Manuel zu nennen. Einfach so, wie sie glaubte, aus einer Laune heraus und
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