Begegnungen (Das Kleeblatt)
Entsetzen spürte er, wie ein Kollern und Glucksen seine Kehle emporstieg. Er war noch immer zwei Köpfe größer und sicherlich doppelt so schwer wie sie! Zu seinem Glück erinnerte er sich gerade rechtzeitig an seine gute Kinderstube, als ihm eingetrichtert worden war, niemanden wegen seiner Kleinwüchsigkeit oder anderer körperlicher oder geistiger Beeinträchtigungen zu verspotten.
Energisch wischte er sich mit der flachen Hand das Grinsen aus dem Gesicht und brummelte zerknirscht: „Was soll ich dazu sagen?“
Als er auch eine halbe Minute später noch keine Antwort erhielt, bat er unsicher: „Lässt du mich vielleicht erst einmal vorbei? Ich glaube, wir sollten das nicht auf die Schnelle und zwischen Tür und Angel besprechen. Außerdem hätte ich nichts gegen einen Kaffee einzuwenden. Mir ist wirklich hundekalt.“
„Aber sicher doch , fühle dich hier ganz wie zu Hause, Herr Doktor von und zu. Alles deins!“, fügte sie bissig hinzu, trat wutschnaubend einen Schritt beiseite und stapfte hinter ihm her in die Küche.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete argwöhnisch, wie er mit klammen Fingern unzählige Lagen Papier von dem Paket entfernte und schließlich einen Blumenstock zutage förderte.
„Frohe Weihnachten“, presste er kaum hörbar zwischen seinen vor Kälte klappernden Zähnen hervor und stellte den Weihnachtsstern unsanft auf das Fensterbrett.
„Der ist aber schön“, ent fuhr es Suse begeistert, wenngleich unbeabsichtigt, und ihr Herz schlug einen Purzelbaum.
„Nichts besonderes“, bemerkte er und versuchte, seine Stimme so klingen zu lassen, als hätte es ihm nicht unbändige Freude bereitet, etwas für sie auszusuchen, das ihr gefallen könnte. „Freesien gab es leider keine.“
Freesien. Er hatte nicht einmal vergessen, welches ihre Lieblingsblumen waren. War das denn zu fassen, er hatte es nicht vergessen! Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, als ihre Augen zu brennen begannen, und sie hektisch blinzeln musste. Um ihm nicht zu zeigen, wie sehr er sie überrascht hatte, drängte sie den Kapitän mit dem Ellenbogen zur Seite.
„Allerdings ist hier wohl kaum der richtige Platz dafür. Hmpf! Ich sag ’s doch, Männer! Wenn ich an meinen verschwundenen Weihnachtskaktus denke, kommt mir jetzt noch die Galle hoch. War bestimmt dein Werk. Der Benjamin war übrigens ein Geburtstagsgeschenk von Adrian. Aber das wird dich sicher nicht interessieren.“
Sie blickte in sein angespanntes, verfrorenes Gesicht und plötzlich überkam sie ein widersinniges Gefühl von Mitleid. Er hatte sich stundenlang in irgendwelchen enervierenden Meetings in der Reederei herumgetrieben und sah furchtbar müde aus. Dann kam er endlich nach Hause und war sogar aufmerksam genug, ihr wie jeden Tag eine Kleinigkeit als Überraschung mitzubringen. Zum Dank dafür empfing sie ihn mit einem Benehmen, das vermutlich kälter noch als das Winterwetter war. Und obendrein musste er sich ein Meckern und Gekeife anhören, das jedem bösen Eheweib zur Ehre gereicht hätte.
Vielleicht sollte sie ihm zumindest die Chance geben, sich in Ruhe zu ihren Vorwürfen zu äußern. Hatte sie nicht bereits viel Schlimmeres erlebt? Und überlebt?
Mit einem Seufzer ergab sie sich in ihr Schicksal und schob Matthias zur Tür hinaus. „Nun hau schon ab, Alter. Du kannst sicher eine heiße Dusche vertragen und möchtest dich umziehen. Ich kümmere mich derweil um den Kaffee. Dein Geheimrezept hast du mir ja glücklicherweise verraten.“
Ausgerechnet in diesem Moment beging er den idiotischen Fehler, sich noch einmal umzudrehen.
Oh nein, Alter, du wirst nicht das letzte Wort haben, schwor sich Suse siegessicher und ihr Schmollmund zog sich süßlich in die Breite. Du! Nicht!
„In einer schwac hen Stunde. Du erinnerst dich?“
Sie tätschelte ihm großmütig den Arm , ein spöttisches Feixen auf dem Gesicht. Am liebsten hätte sie ihm ja noch tröstend über das rabenschwarze Haar gestrichen, allerdings vereitelte seine unerreichte Größe dieses Ansinnen. Selbst mit ausgestrecktem Arm wäre sie kaum in der Lage, auch nur annähernd bis zu seinem Haupt zu gelangen.
„Deswegen musst du dir jedoch keine grauen Haare wachsen lassen, lütt Matt ’n. In solch einer von Lust, Leidenschaft und Libido beherrschten Situation haben schon die standhaftesten Männer ihr Vaterland verraten.“
Zu ihrer heimlichen Freude bemerkte sie die Muskeln seines Kiefers, die vor mühsam beherrschtem Zorn hervortraten.
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