Begierde
Vicky zog die Bettdecke über ihren Kopf und stöhnte. Heute war der Tag der Tage. Sie hatte das Gefühl, überhaupt nicht geschlafen zu haben, hatte sich nur im Bett herumgewälzt, aber sie wusste, dass das Einbildung gewesen war.
»Signorina, aufstehen. Ich habe Ihr Frühstück mitgebracht.«
Vicky gab nur ein verhaltenes Brummen von sich. Sie hörte wie die Tür wieder geschlossen wurde und schob langsam ihre Nase unter der Bettdecke hervor. Igittt. Die Sonne schickte genau auf ihre Augen einen ihrer Morgenstrahlen und Vicky blinzelte. Na prima. Exakt das Wetter, das sie sich in ihren romantischen Jungmädchenträumen immer für ihren Hochzeitstag gewünscht hatte.
Hochzeit? War es heute wirklich soweit? Sie musste verrückt sein, dass sie zugestimmt hatte. Gab es nicht doch noch einen Ausweg?
Langsam schob sie die Bettdecke zurück, räkelte sich und schwang die Beine über die Bettkante. Vielleicht würde es gar nicht so schlimm. Vorsichtig betastete sie ihren Po, aber von der kleinen Züchtigung war nichts mehr zu spüren.
Sie tappste barfuß zum Fenster, das bereits offen stand und schaute hinaus, über den weiten Garten. Vögel zwitscherten in den Zweigen und weiter entfernt sah sie, wie eine braune Katze herumstreunte. Vicky stützte ihre Arme auf dem Fensterbrett auf. Bei näherer Betrachtung war dies ein wunderschöner Ort zum Leben. Wie hatte Anna immer gesagt, um sie zu beruhigen?
Du wirst nichts arbeiten müssen, er wird dir jeden Wunsch von den Augen ablesen, aber du musst dafür …
Genau, das war es. Dieses
»aber«
.
Vicky schüttelte den Kopf, ging zu dem kleinen Tisch, auf dem das Frühstückstablett stand und setzte sich. Sie zog schaudernd die Schultern hoch.
Anna
. Wenn sie doch diese lässige Art hätte, genauso mit ihrem Schicksal umzugehen. Aber sie war nun mal nicht Anna, sondern sie selbst. Anna war stark und voller Optimismus gewesen, bis zu dem Moment, als sie glaubte, Antonio hätte Vicky für sich ersteigert. Warum hatte ihr niemand die Wahrheit gesagt? Die Arme.
Vicky nahm einen Schluck von dem nach einer Prise Zimt duftenden Kakao. Wann hatte sie sich zuletzt selbst Frühstück gemacht? Selber etwas gekocht? Eingekauft? Es schien ihr eine Ewigkeit her zu sein. Würde es ihr auf Dauer gefallen, umsorgt und verwöhnt zu werden, oder würde sie sich dabei langweilen? Und – wer war er denn nun wirklich, der Mann mit der Maske, der ihr einerseits seine Zärtlichkeit bewiesen hatte und andererseits eine Strenge ausstrahlte, die sie frösteln ließ. Seine Stimme ähnelte so sehr – nein, diesen Gedanken wollte sie nicht zuende denken.
Mitten in ihre Gedanken hinein wurde erneut die Tür geöffnet. Maria stemmte resolut die Hände auf die Hüften und sah missbilligend auf Vicky herab. Wenn Alberto keine Zeit hatte, brachte Maria ihr das Essen. »Signorina, Sie haben ja überhaupt nichts gegessen.«
Der dicke Kloß in Vickys Kehle verhinderte, dass sie antwortete. Sie schüttelte lediglich den Kopf. Maria erschien ihr wie eine Mischung aus ihrer eigenen Mutter und der Patrona, und das wirkte einschüchternd genug. Wie um Himmels willen sollte sie dieser Frau in Zukunft begegnen, der sie in wenigen Stunden als Frau des Hausherrn gegenüber stand. Wie sollte dieser Rollenwechsel vonstatten gehen? Oder war es umgekehrt, würde sie gar nicht dem Personal als künftige Gattin des Hausherrn übergeordnet sein? Vielleicht war alles anders, und die Angestellten hatten die Aufgabe, auf sie aufzupassen?
»
Avanti
, wir dürfen keine Zeit verlieren, Signorina.«
Maria unterbrach resolut Vickys Grübeln. Sie scheuchte sie ins Bad, nachdem Vicky geduscht hatte, von dort in ein Ankleidezimmer am Ende des Flures. Von da an fühlte sich Vicky wie eine Schaufensterpuppe, die frisiert, geschminkt, manikürt und angekleidet wird, an der jeder herumzupft, sie dreht, zwischendrin kritisch betrachtet, ändert und so fort.
Vicky versuchte einfach alles über sich ergehen zu lassen, aber in ihrem Kopf rotierte es weiter. Als wäre sie plötzlich aus einem Koma erwacht, realisierte sie, dass ihr Leben in kurzer Zeit eine völlige Wendung nehmen würde. Hatte man sie in den vergangenen Tagen mit Valium oder etwas Ähnlichem ruhiggestellt oder litt sie einfach unter einer Art Verdrängungskomplex?
Panik erfasste sie. Was war, wenn der Mann, den sie heiratete, bisher nur seine nette Seite gezeigt hatte? Gino – und wie weiter? Wie verdammt hieß denn nun der Mann, der ihr Ja-Wort erwartete?
Plötzlich
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