Begierde
zu nichts zwingen lassen, schon gar nicht zu einer Heirat mit einem wildfremden Mann. Doch je länger es dauerte, desto schwächer wurde ihr Wille. Es gab noch eine Möglichkeit, sie würde nach ihrer Hochzeit weglaufen und sich dann scheiden lassen. Obwohl – dann musste sie ja fast noch zwei Monate durchhalten und vielleicht würde ihr künftiger Ehemann sie auch einsperren? Es gab so entsetzliche Teufel unter den Menschen. Ein erneuter Weinkrampf schüttelte ihren Körper.
»Sind Sie da, Signor Tomaso?« Vickys Stimme klang heiser und erschöpft.
»Si Victoria. Was hast du mir zu sagen?«
»Bitte, Signor Tomaso, ich flehe Sie an, zeigen Sie Gnade. Ich möchte mich … entschuldigen. Bitte, bitte holen Sie mich hier raus, ich flehe Sie an. Ich kann nicht mehr, ich friere mich noch zu Tode …«
Tomaso legte die Zeitung, in der er gelesen hatte, beiseite, stand auf und beugte sich über den Rand des Schachtes. »Bist du bereit, deine Entschuldigung auf Knien liegend bei der Patrona vorzubringen?«
»Ja, ja, ja – ich tue alles, was Sie wollen, nur bitte, bitte holen Sie mich hier heraus.«
Vicky schaute nach oben. Ihr Gesicht war bleich und ihre Miene zeigte ehrliche Verzweiflung.
»Gleich«, erwiderte er brummend und verschwand. Es schien ihr diesmal ernst zu sein – hoffentlich.
Tomaso war durchaus abgebrüht, die eine oder andere Maßnahme durchzuführen und zur Erziehung der jungen Damen beizutragen. Mitleid regte sich bei ihm nicht. Wobei sowohl er als auch Stefano den Reizen besonders hübscher Mädchen nicht immer widerstanden und durchaus bereit waren, hinter dem Rücken der Patrona das eine oder andere Zugeständnis zu machen, wenn das Angebot stimmte. Aber einen Fall wie Vicky hatte er noch nie erlebt und er verstand nicht, warum die Patrona sich darauf eingelassen hatte.
Als sie ihm und Stefano den Auftrag zu Vickys Entführung gegeben hatte, hatte er gewagt zu widersprechen. Immerhin war er ihr Adoptivsohn und designierter Nachfolger, und das war nicht der Stil, mit dem sie zu arbeiten pflegten. Zudem nahmen sie alle Mädchen möglichst zum gleichen Zeitpunkt auf, damit alle dieselbe Erziehung genossen, und wenn sie das Haus wieder verließen, war vier Wochen Zeit für Urlaub, ehe die nächste Runde begann. Vickys Anwesenheit gefährdete den gesamten Zeitplan. Fügte sie sich nicht in die ihr zugedachte Rolle, musste die Versteigerung möglicherweise verschoben werden. Darauf hatte er die Patrona hingewiesen.
»Ich weiß, Tomaso, aber du wirst es trotzdem tun«, hatte sie ihm geantwortet.
»
Scusi
, Patrona, was ist so wichtig an diesem Mädchen? Oder ist ihr Stiefbruder ein hohes Tier?«
Sie hatte kurz mit den Schultern gezuckt. »Nein, er selbst nicht, aber der Vater seines Kompagnons. Patrone Enzio del Carmine ist ein einflussreicher Geschäftsmann. Ich will kein Risiko eingehen. Vielleicht bekämen wir Schwierigkeiten, wenn wir ablehnen.« Sie hatte ihn zuversichtlich angelächelt. »Du machst das schon, Tomaso. Außerdem glaube ich, dass wir mit beiden jungen Männern gleichzeitig auch neue Kundschaft ins Haus bekommen. In Rom sind wir noch nicht besonders gut eingeführt. Du weißt doch, die meisten kommen aus Mailand, Modena, Bologna. Zumindest del Carmine junior wirkte sehr interessiert und Signor Braun hat für die Ausbildung und Entführung seiner Stiefschwester eine ordentliche Summe hinterlassen. Die beiden könnten unter den betuchten unverheirateten Römern ein wenig Werbung für uns machen.«
»Ich halte das für gefährlich, wenn die Kunden so nah sind.« Es gelang ihm jedoch nicht, sie davon zu überzeugen.
Zehn Minuten später hatten Tomaso und Stefano Vicky aus dem Schacht herausgehoben. Sie hatten sie in einen dicken Bademantel eingewickelt. Vicky war so durchgefroren und schlapp, dass sie unfähig war zu laufen. Tomaso hatte sie daher auf seine Arme genommen und in das Büro der Patrona getragen. Dort setzte er sie ab und zog ihr den Bademantel aus.
»Nun?«, fragte die Patrona.
Vicky traute sich nicht, sie anzusehen. Sie befolgte, was Tomaso ihr befohlen hatte und warf sich der Patrona zu Füßen. »Ich bitte um Verzeihung für mein ungezogenes Verhalten. Bitte geben Sie mir eine neue Chance, ich möchte mich bessern.« Ihre Stimme war brüchig, nicht nur weil sie durchfroren war und zitterte. Sie schien müde vom Kampf gegen ihren inneren Widerstand.
Die Patrona atmete auf.
Dir wird auch gar nichts anderes übrig bleiben, du törichtes Geschöpf
, dachte sie,
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