Beginenfeuer
zu schwer, erinnern mich an dunkle Schluchten. Kannst du dir ausmalen, was passiert wäre, wenn das Feuer in einer trockenen Sommernacht ausgebrochen wäre? Alle Kanäle zusammen hätten nicht genügend Wasser geführt, um eine Katastrophe zu verhindern.«
»Aus diesem Grund hat der Magistrat wohl kürzlich befohlen, dass alle neuen Häuser mit Steinplatten oder glasierten Ziegeln eingedeckt werden müssen.«
»Dann lass uns hoffen, dass der Rat von Brügge ebenso viel Klugheit beweist, den Brand im Beginenhof aufzuklären«, murmelte Mathieu zerstreut. Er war mit seinen Gedanken nicht mehr bei der Sache.
Seine Klage über die Stadt hatte ihn unverhofft auf andere Pfade geführt. Er hatte die heimatliche Kette waldbedeckter grüner Hügel vor Augen, die sich bis zum Horizont erstreckten. Das grün-blaue Wasser des Doubs, der sich seinen Weg durch diese Hügel suchte, mal sanft und gemächlich, dann wieder reißend und wild. Vom großen Viereckturm der Burg von Andrieu konnte man seinen Lauf bis hinab zur Saône verfolgen. Es wollte ihm nicht gelingen, dieses Bild aus seinem Gedächtnis zu löschen.
A CHTES K APITEL
Missverständnisse
Y SÉE
Brügge, 20. November 1309
Was war mit den Glocken geschehen? Sie klangen anders als sonst, feierlich, dröhnend, majestätisch. Keine Spur des fröhlichen Klanges, mit dem sie im Weingarten sonst des Morgens zu Gebet und Arbeit riefen. Auch die übrigen Laute schallten fremd und ungewohnt.
Ysée hörte Männerstimmen, das Knirschen schwerer Balken, das Kreischen von Sägen, eifriges Hämmern und dumpfes Rumpeln. Dazwischen Flüche, Rufe, das Weinen eines Kindes, Pferdehufe, das Rattern eisenbeschlagener Räder und das stetige Rauschen des Regens. Wo war sie?
Ysée stützte sich blinzelnd auf einen Arm. Es war noch nicht richtig hell, aber was sie anfangs für Morgengrauen hielt, verwandelte sich in Vorhänge. Durch einen Spalt kam etwas Licht in den Alkoven, in dem sie auf einer weichen Matratze lag. Da waren auch federgefüllte Kissen und eine schwere Decke. Ohne Reue hätte sie in kalten Nächten ihre Seligkeit für solchen Luxus eingetauscht. In diesem Augenblick versetzte es sie in Angst und Schrecken. Dies war nicht ihr Bett! Ysée riss die Vorhänge zur Seite. Ihre Augen glitten über die makellos verfugten Bretter des Bodens. Verzierte Kassetten und geschnitzte Leisten schmückten die Wände. Ein quadratisches Fenster, durch das Tageslicht drang. Ein Glasfenster, dessen Scheiben mit Bleistegen verbunden waren. Darunter stand eine Truhe mit Sitzkissen. »Heilige Mutter Gottes, wo bin ich?«
Ein eigenartig pelziger Geschmack im Mund und dumpfes Dröhnen hinter den Schläfen erschwerten ihr das Denken. Sie schloss wieder die Augen und versuchte das Durcheinander in ihrem Kopf zu entwirren. Feuer. Angst. Finsternis. Gewalt. Grobe Hände, die ihr wehtaten. Ein Sturz ins Dunkel. Ein Becher, der ihr klirrend an die Zähne stieß. Hatte sie all diese Schrecken geträumt? Nein! Ihre Hände schmerzten. Nur nach und nach kam die Erinnerung. Ihrer engen Kehle entrang sich ein erstickter Laut. »Ihr seid wach? Der heiligen Anna sei Lob und Dank. Ihr habt mir Sorgen gemacht, Kindchen.«
Ysée hatte die Frau nicht eintreten hören. Eine Greisin mit einem Gesicht, faltig wie ein Apfel am Ende des Winters, aber mit den flinken Augen eines Wiesels und den gemessenen Bewegungen einer Person, die wusste, was sie wollte. Sie schenkte ihr ein Lächeln und sah sie erwartungsvoll an. »Wo bin ich?«
»In Sicherheit, meine Kleine. Ihr müsst keine Angst mehr haben. Alles wird sich zum Besten wenden.« Zu ihrer Furcht gesellte sich Misstrauen. Für sie wandte sich nie etwas zum Besten.
Der ganze Raum verriet bürgerlichen Wohlstand. Der quadratische Tisch, ein Stuhl mit hoher Lehne und ein gemauerter Kamin, in dem ein wärmendes Feuer hinter einem schützenden Eisenschirm loderte, machten ihn behaglich. Ihre Augen kehrten zu der Fremden zurück. »Wer seid Ihr?«
»Ich bin Frau Godelieve, Kindchen. Ihr müsst hungrig und durstig sein. Wartet ein Weilchen, ich werde mich sofort um Euch kümmern.«
Sie eilte davon, ohne eine weitere Frage zuzulassen. Ein seltsames Geräusch an der Tür verunsicherte Ysée zusätzlich. Ein Riegel? Hatte die Frau sie eingesperrt? Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür und fand ihren Verdacht bestätigt. Sie war eine Gefangene. Warum? Sie hatte noch nie etwas von einer Frau mit dem Namen Godelieve gehört. Ysée stemmte sich gegen die Tür
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