Beginenfeuer
ihren ganzen Körper erfasste. Es war kein erholsamer Schlaf gewesen, aus dem sie erwacht war. Ihr Kopf war dumpf, und sie verfiel in einen schlafähnlichen Dämmerzustand.
Die Glocken drangen erneut in ihre Gedanken, und dieses Mal zählte sie die Schläge, um sich zurechtzufinden. Die Non, also war es drei Uhr nachmittags. Ysée konnte sich nicht erinnern, jemals so lange geschlafen zu haben. Kein Wunder, dass dort unten auf der Gasse die Fuhrwerke ratterten und naher Baulärm die Ruhe des Hauses störte.
Sie hob das Gesicht so nahe an die Glasscheiben, dass ihr Atem die Fläche beschlug. Erst als sie die Feuchtigkeit mit dem Ärmel fortgewischt hatte, sah sie das verschwommene Bild eines Fachwerkhauses mit spitzem Giebel auf der anderen Straßenseite aufragen. So weit sie sehen konnte, stand ein Haus neben dem anderen. Möglicherweise gehörten die Glocken zur Kathedrale von Sankt Salvator. Rund um das älteste Gotteshaus der Stadt war das Viertel der Handwerker und kleinen Händler. Das Haus dort drüben sah ganz danach aus. Aber was hatte sie hier zu suchen?
Eine Frage, auf die ihr die Alte weiterhin hartnäckig jede Antwort verweigerte, als sie kam, sie zum versprochenen Bad zu holen. Ein Holzzuber, mit einem reinen Leinentuch ausgelegt, wartete vor der großen Herdstelle. Er war zur Hälfte mit dampfendem warmen Wasser gefüllt. Über dem prasselnden Feuer brodelte in einem riesigen Kessel zusätzliches Wasser. Auf einer schmalen Holzbank lagen gefaltete Leinentücher, mehrere Glasgefäße und eine Schüssel mit angerichtetem Seifenkraut standen bereit. Ein hölzerner Paravent schützte vor Zugluft und sorgte zugleich dafür, dass das Feuer der Herdstelle nicht die ganze Küche, sondern zuerst die Ecke mit dem Badezuber erwärmte.
»Husch, hinein mit Euch, Kind«, kommandierte die alte Frau resolut. »Ich habe Rosenöl und Lavendel ins Wasser getan. Zieht das Hemd aus. Ich werde es auf der Stelle verbrennen, zu etwas anderem taugt es nicht mehr.«
Ysée widersprach nicht. Seit ihrer Kindheit hatte sie sich nicht mehr mit warmem Wasser gewaschen noch gar warm gebadet. Bäder galten auch im Beginenhof als sündiger Luxus, und so hatte sie sich tagein, tagaus, unter dem Schutz des Hemdes, mit kaltem Wasser gesäubert.
Als sie etwas zögerte, das schmutzige Kleidungsstück abzustreifen, zerrte es ihr die Alte einfach über den Kopf. »Wie sollt Ihr sonst sauber werden? Kein Mann mag eine Frau, wenn ihre Haare vor Schmutz starren und ihr Körper nach ungewaschener Wolle stinkt.« Ysée wollte ihr sagen, dass sie keinem Mann gefallen wolle, aber als sie den Nacken auf die Kante des Zubers legte und nur noch ihr Kopf aus dem heißen Wasser schaute, seufzte sie vor Wohlbehagen, schloss die Augen und schwieg. Eine wohlige Wärme durchströmte sie.
»Je nun, nicht einschlafen, Kind. Wir müssen uns beeilen, uns bleibt nicht mehr viel Zeit.« Die emsige Alte riss sie viel zu bald aus ihren Träumen. »Zeit wofür?«
Ysée erhielt auch dieses Mal keine Antwort. Dafür beugte sich die Greisin über sie und nahm sich ihrer Haare an. Sie schäumte die nassen Strähnen mit einer scharf riechenden Paste ein, die in den Augen brannte.
Es gefiel ihr nicht, von einer Fremden gewaschen und geschrubbt zu werden. Aber jedes Mal, wenn sie sich den energischen Händen entziehen wollte, packte die Greisin fester zu. »Lasst mich«, widersetzte sie sich dennoch, als die Alte ein weiteres Duftöl ergriff, um es auf ihrem Haar zu verteilen. »Ich will nicht wie ein Garten riechen.«
»Dummes Kind«, murrte sie und verschloss das Gefäß unwillig wieder. »Ihr wisst nicht, was gut ist. Richtet Euch auf, damit ich Euch mit frischem Wasser spülen kann, ehe Ihr aus dem Zuber steigt.«
Die Prozedur ließ Ysée erschauern, denn es war kühles Brunnenwasser, mit dem die Alte sie übergoss. Immerhin vertrieb es die letzten Reste der Benommenheit. Danach nahm sie der Greisin das Tuch aus der Hand und rubbelte sich selbst so energisch trocken, dass ihre Haut glühte. Das feine, ungewöhnlich weiße Hemd, das sie als erstes Kleidungsstück gereicht bekam, floss wie kühler Regen über die Haut. Dass es keine Ärmel besaß, wunderte sie, aber das Rätsel löste sich, als ihr ein zweites Untergewand gereicht wurde. Eine modische Cotte aus feinstem, hellgrünem Wollstoff, mit engen, überlangen Ärmeln und einem verschwenderisch weiten Rock.
Ysée bestaunte Material und Farbe, während die Greisin die Bänder an Halsausschnitt und Ärmeln
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