Begraben
zurück, stieß gegen das Fenster, das ein metallenes Geräusch von sich gab. Die Männer unten drehten sich um und hoben die Köpfe. Cyrille stürzte in ihr Zimmer, bevor jemand sie sehen konnte, und lehnte sich mit angehaltenem Atem an die Wand. Das ist unmöglich, mein Gott, das ist doch unmöglich. Ihr Körper verweigerte jede Bewegung. Er kann nicht hier sein, er weiß nicht, dass ich hier bin. Es ist eine Halluzination. Eine schier endlos erscheinende Zeit verging, ohne dass sie einen klaren Gedanken fassen konnte. Nach langen Minuten beschloss Cyrille, auf den Balkon zurückzugehen, nach unten zu schauen und festzustellen, dass es nur eine Vision gewesen war. Du kannst doch logisch denken, bist Wissenschaftlerin. Er kann unmöglich hier sein.
Sie musste mehrfach schlucken. Es ist ein Albtraum, ich werde gleich aufwachen. Sie zog das Badehandtuch enger um sich und schlich Schritt für Schritt in gebückter Haltung über den Balkon. In einer Nische verborgen, richtete sie sich langsam auf, bis sie einen Blick nach unten werfen konnte. Niemand. Vor dem kleinen Supermarkt stand niemand mehr. Cyrille wagte es, etwas weiter vorzutreten, um einen Teil der Straße überblicken zu können. Die Händler öffneten gerade ihre Sonnenschirme, einige wischten die nassen Plastikstühle ab, eine Rikscha fuhr im Schritttempo vorbei, der Fahrer unterhielt sich mit einem Radler. Keine Gruppe, kein blonder Europäer. Cyrille atmete tief durch und ging in ihr Zimmer zurück. Die Klimaanlage war wieder angesprungen und pumpte eisige Luft ins Zimmer. Cyrille tadelte sich selbst. Ich leide bereits an Verfolgungswahn. Sie ließ das Handtuch fallen, ging ins Bad und unter die Dusche. Sie stellte die Mischbatterie langsam kälter, bis ein eisiger Wasserstrahl aus dem Brausekopf kam. Nach Luft ringend, trat sie abgekühlt aus der Dusche, die Gedanken wieder geordnet. Sie trocknete sich ab, zog sich an, nahm die Stofftasche, die sie am Vortag gekauft hatte, und steckte iPhone, Geldbeutel, Pass und Kreditkarte hinein. Die Sonne war inzwischen aufgegangen, es war kurz nach sechs Uhr. Sie ging hinunter ins Hotelrestaurant.
Nach einem großen Kaffee, Eiern mit Speck, einigen Scheiben Toast, etwas Quark und einem Orangensaft fühlte Cyrille sich besser. Sie hatte sich selbst Angst gemacht wie ein kleines Mädchen. Es war idiotisch, man würde sie hier nicht finden. Sie bestellte beim Kellner noch eine Tasse Kaffee und schaltete ihr Handy ein. Das Display zeigte ihr den Eingang von elf SMS und acht Sprachnachrichten auf der Mailbox an. Um die E-Mails zu lesen, würde sich Cyrille später ins Internet-Café begeben, dort ginge es bedeutend schneller. Sie öffnete den kleinen blauen Umschlag, der die SMS anzeigte, und las die erste Meldung, die von Benoît stammte: »mcih fur na, msüsen wir edren!« Verwirrt schloss Cyrille einen Moment die Augen. Benoît musste in derart schlechter psychischer Verfassung sein, dass es ihm nicht einmal gelungen war, die Wörter in die richtige Reihenfolge zu bringen. Fast alle übrigen Textnachrichten waren von ihm. Sie hatte nicht den Mut, sie zu lesen. Allein anhand der Uhrzeit, ab Mitternacht Pariser Zeit, und des Abstands, in dem sie geschickt worden waren, nämlich alle fünfzehn Minuten, konnte sie den Inhalt erraten. Eine einzige SMS war nicht von ihrem Mann, sondern von Nino. Diese las sie. »Haben Neuigkeiten. Melde dich bitte. Baci. Nino.« Cyrille schaute auf die Uhr, in Frankreich war es noch mitten in der Nacht. Sie schrieb eine kurze Nachricht: »Rufe dich in ein paar Stunden an. Es geht mir gut. C« und schickte sie ab. Während sie die Mailbox abhörte, trank sie ihren Kaffee. Sie löschte die beiden Nachrichten von Benoît und hörte die dritte und letzte ab, die nachts um 01 Uhr 06 gekommen war: »Hier ist Marie-Jeanne. Ruf mich bitte an, wenn du diese Nachricht abgehört hast. Es ist dringend.« Marie-Jeannes Stimme klang belegt, als sei sie erkältet oder habe geweint. Cyrille wählte die Handynummer ihrer Nichte. Es klingelte einmal, zweimal. Jemand hob ab.
»Marie-Jeanne?«
»Cyrille … bist du es?«
Die Stimme der jungen Frau war nur ein kaum hörbarer Hauch. Cyrille hielt sich das freie Ohr mit der Hand zu.
»Marie-Jeanne, was hast du, Liebes? Ich verstehe dich sehr schlecht, es ist ziemlich laut hier.«
Ein Schluchzen war am anderen Ende der Leitung zu hören.
»Du hattest recht.«
Die Stimme erstarb. Cyrille stand auf und verließ eilig das
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