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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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Fuß auf den anderen. Was soll ich tun? Soll ich ihn ansprechen?

22   Uhr
    Cyrille lag in ihrem Hotelzimmer auf dem Bett ausgestreckt, die Augen zur Decke gerichtet und wusste, dass sie nicht schlafen können würde. Youri kannte sicher einige Antworten auf ihre Fragen. Wahrscheinlich hätte er ihr sagen können, welche Art Droge sie in der besagten Nacht vor zehn Jahren genommen hatten. Aber im letzten Moment hatte sie sich anders besonnen. Durch ein Treffen mit ihm wäre etwas wieder wahr geworden, dem sie geduldig jegliche Substanz entzogen hatte, um sich nicht mehr schuldig fühlen zu müssen. Sie spürte, dass alle Bemühungen, seine Existenz und ihr Fehlverhalten zu leugnen, hinfällig würden, wenn sie ihm erneut auch nur die kleinste Rolle in ihrem Leben zugestände. Und Benoît würde alles erraten. Deshalb hatte sie sich zurückgezogen und war davongelaufen wie ein auf frischer Tat ertapptes Kind, um in ihrem Zimmer im Buddy Lodge Zuflucht zu suchen.
    In diesem Moment spürte sie eine animalische Angst. Sie fürchtete sich entsetzlich vor der kommenden Nacht, vor den Phantomen, die sie heimsuchen würden, Benoît, Astor, Youri, Julien Daumas … Sie schaltete ihre Nachttischlampe ein, stellte die Klimaanlage ab, die zu viel Lärm machte, und dachte lange nach. Dann stand sie auf und kramte in ihrem Koffer. Der lange Leinengürtel ihres Kleides eignete sich. Sie streckte sich wieder auf dem Bett aus, löschte das Licht, knotete den Gürtel am Kopfende des Bettes fest und wickelte sich die andere Seite um die Handgelenke. Die Hände vor dem Körper zusammengebunden, legte sie den Kopf auf das Kissen. So würde sie in der Nacht niemandem etwas antun können. Ihre Kehle brannte. Ihr Geist bat um Vergebung. Sie begann zu schluchzen.

33
    14.   Oktober
    In das Betttuch gewickelt und völlig durchgeschwitzt, schreckte Cyrille hoch. Mit der Küchenschere bewaffnet, hatte sie auf Astor eingestochen. Sie hatte den Gegenstand in der Faust gespürt und das Eindringen in das weiche Gewebe, das unter den Stößen nachgab. Ist das ein Albtraum oder die Erinnerung, die zurückkehrt? Voller Panik öffnete sie die Augen. Wo bin ich? Warum bin ich angebunden? Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich daran erinnerte, in Bangkok zu sein und warum ihre Hände gefesselt waren. Sie band sich los, drehte sich auf den Rücken, massierte sich die Handgelenke und blieb eine Weile so liegen, den Blick an die Decke gerichtet. Wie konnte ich das tun? Wer bin ich wirklich, um dazu fähig zu sein? Sie nahm alle Energie zusammen, um diese Fragen zu verdrängen und unter Verschluss zu halten. Wie spät mochte es sein? Noch war kein Stimmengewirr von der Straße zu hören, die sich ein paar Stunden Atempause gönnte, die Hitze war aber bereits erstickend. Sie schaltete die Klimaanlage wieder ein, die erneut zu brummen begann. Was tust du hier, Cyrille? Sie musste sich die Realität eingestehen: Sie war auf der Flucht.
    Sie würde aufstehen, sich waschen, etwas essen und sich ins Brain Hospital begeben, um Sanouk Arom zu treffen. Sollte diese Begegnung zu nichts führen, würde sie nach Paris zurückkehren und einen Arzt konsultieren.
    Sie durchsuchte ihr Nachtkästchen, bis sie das Knistern des Kuchenpakets hörte, das sie im Seven/Eleven gekauft hatte. Sie biss in einen thailändischen süßen Keks. Er war nicht gut, schmeckte aber zumindest nach Schokolade. Sie setzte sich im Bett auf. Die Klimaanlage stotterte, dann brach das Brummen ab. Stromausfall, Verflixt! Das fehlte gerade noch! Cyrille atmete schwer, ihr Haar klebte an Stirn und Hals, sie brauchte Luft. Sie erhob sich, wickelte sich in ein Duschtuch und näherte sich den Fensterläden, die sie über Nacht halb geöffnet gelassen hatte. Nun stieß sie beide auf. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Sie öffnete das Fenster.
    Die Luft war angenehm, sie trug die Feuchtigkeit der nächtlichen Regenfälle mit sich. Cyrille trat einen Schritt hinaus und stützte sich auf die Balustrade. Die Straße war ruhig, vom Regen gewaschen. Als sie die Augen wieder öffnete, hatte sich unten auf dem Bürgersteig eine kleine Gruppe Männer gebildet, zur Hälfte im Schatten des Seven/Eleven-Ladenschilds. Sie unterhielten sich. Einer machte einen Schritt zurück und stand nun direkt unter dem Schild. Seine Größe, seine Gestalt, sein helles Haar … Cyrille erstarrte. Eine Welle eiskalter Angst überflutete ihren Körper bis in die Haarwurzeln.
    Er sah aus wie Julien Daumas!
    Sie trat abrupt

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