Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
Vom Netzwerk:
geantwortet, aber sie war hier nicht in Frankreich, daher stammelte sie stattdessen eine Entschuldigung:
    »Verzeihen Sie, dass ich Sie zu Hause störe. Ich hoffe, Ihre familiären Probleme haben sich gelöst.«
    Ein kaum wahrnehmbares Stirnrunzeln zeigte Cyrille, dass der Professor bereits vergessen hatte, unter welchem Vorwand er den Termin am Vormittag hatte platzen lassen. Doch plötzlich erinnerte er sich.
    »Falscher Alarm. Meine Tochter. Aber alles ist in Ordnung.«
    Er wich keinen Schritt von der Tür zurück. Cyrille hätte noch so lange Small Talk machen können, bis der alte Herr sich verpflichtet gefühlt hätte, sie hereinzubitten. Doch plötzlich hatte sie genug von diesem Theater. Die Realität sah so aus, dass sie an einem unbekannten und schwerwiegenden Gehirnproblem litt, dadurch einen Teil ihrer Vergangenheit vergessen und möglicherweise ein Tier zu Tode gequält hatte. Ein Verrückter verfolgte sie, und ihre einzige Aussicht war die Einweisung in die Psychiatrie.
    »Professor, ich weiß, dass mein Mann Sie gedrängt hat, mich nicht zu empfangen, damit ich nach Paris zurückkehre. Hören Sie nicht auf das, was er Ihnen sagt. Er übertreibt, er hat Angst, dass ich ein gefährliches Experiment durchführe oder etwas in der Art. Aber das trifft nicht zu. Ich bin einfach nur gekommen, um mit Ihnen von Wissenschaftler zu Wissenschaftler, von Arzt zu Arzt zu sprechen.«
    Arom rührte sich nicht. Zwischen seinen Lippen erschien seine bläuliche Zungenspitze.
    »Ihr Mann ist tatsächlich äußerst beunruhigt«, sagte er mit monotoner Stimme. »Sie sollten nach Paris zurückkehren, damit er sich um Sie kümmern kann.«
    Es war eine Art, sich zu verabschieden. Cyrille nahm zwar einen Unterton wahr, der bedeutete: »Verschwinden Sie«, tat jedoch so, als habe sie nichts bemerkt und drängte weiter:
    »Wollen Sie mir nicht eine Tasse Tee anbieten? Dann können wir wenigstens über die jungen amnestischen Patienten sprechen, um die Sie sich in der VGCD kümmern …«
    Aroms Gesichtsausdruck veränderte sich. Seine Miene drückte Unruhe aus. Eine solche Bitte abzulehnen war der Gipfel der Unhöflichkeit. Der alte Professor biss die die Zähne zusammen.
    »Das ist leider unmöglich, es tut mir sehr leid. Ich habe bereits Besuch.«
    Cyrille verlor die Geduld. Sie hätte wetten können, dass niemand da war.
    »Professor Arom, ich habe die Akte Ihrer jungen Patienten gesehen. Die haben doch wohl ebenso das Gedächtnis verloren wie ich. Kann ich mit einem von ihnen sprechen? Wie haben Sie sie behandelt? Sie hatten doch versprochen, mir zu helfen.«
    Sanouk Aroms gesundes Auge weitete sich. Er klammerte sich an den Türstock wie an einen Rettungsring in stürmischer See. Sein Hals lief rot an.
    »Gehen Sie, ich bitte Sie. Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«
    Der Tonfall der jungen Frau wurde flehend:
    »Bitte, helfen Sie mir doch.«
    Sanouk Arom wich zurück, blickte, als würde er sie nicht mehr wahrnehmen, auf einen Punkt in weiter Ferne, trat noch weiter zurück und schlug ihr die Tür vor der Nase zu.
    Cyrille begann, an die Tür zu trommeln.
    »Öffnen Sie mir, Professor Arom, Sie können mich doch nicht so stehen lassen! Sie schulden mir eine Erklärung! Was hat mein Mann gesagt, dass Sie so verängstigt sind?«
    Was hier vor sich ging, war völlig verrückt. Sie verstand überhaupt nichts mehr. Sie hämmerte weiter gegen die Tür, vergaß jegliche Selbstbeherrschung und Höflichkeit. Dieser Mann musste ihr einfach antworten.
    »Öffnen Sie mir! Sie werden sehen, ich gehe nicht!«
    Sie schrie die Tür an. Sie erkannte sich selbst nicht wieder. Ihre gute Erziehung war wie weggeblasen. Der Professor öffnete trotz allem nicht. Sie legte das Ohr an das Holz.
    »Professor Arom«, rief sie, »Professor Arom, wo sind Sie?«
    Die einzige Antwort war Schweigen.
    Erst als sie etwas zurücktrat, um zu versuchen, Arom durch das Fenster zu erspähen, bemerkte sie den zusammengefalteten Zettel, der durch den Türspalt geschoben worden war. Sie bückte sich, hob ihn auf und las:
    »Gehen Sie, ich kann nichts mehr für Sie tun.«
    Sie las die Nachricht mehrmals. Sie drehte sich zu dem gespenstischen Haus um. Vom Fenster im ersten Stock beobachtete Sanouk Arom sie.
    Cyrille wich zurück. Dieser Mann ist krank . Sie lehnte sich gegen die Wand, die nach verfaultem Holz roch. Wie ein Zombie ging sie die Stufen der Veranda hinab, in ihrem Kopf begann sich alles zu drehen. Ihre Beine zitterten, sie fürchtete, gleich einen

Weitere Kostenlose Bücher