Begraben
zugefügt. Die schlechte Nachricht ist, dass die Perforation zu tief ist, als dass die Chirurgen trotz aller Bemühungen Ihre Augen hätten retten können. Die gute Nachricht ist, dass die berechtigte Hoffnung besteht, durch eine Hornhauttransplantation Ihre Sehfähigkeit zumindest teilweise wieder herzustellen. Wir haben Sie als besonders dringlichen Fall auf der Warteliste der Agentur für Biomedizin eingetragen.«
Marie-Jeanne bewegte sich keinen Millimeter. Es war nicht das erste Mal, dass sie dachte, Ärzte sind doch alle Arschlöcher. Dieser hier machte dabei keine Ausnahme. Brutal schlug er ihr die Wahrheit um die Ohren, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass sie äußerst sensibel und ohnehin schon selbstmordgefährdet war. Hätte sie noch genug Kraft gehabt, wäre sie bereits aus dem Fenster gesprungen. Sie hatte Lust, ihn zu beschimpfen, begnügte sich jedoch mit verächtlichem Schweigen.
»Im Übrigen hat die Polizei die Ermittlungen aufgenommen, Mademoiselle«, fuhr Pochon fort. »Ein Inspektor wartet draußen, um Ihre Aussage aufzunehmen. Fühlen Sie sich in der Lage, einige Fragen zu beantworten?«
Marie-Jeanne stützte sich auf die Ellbogen und setzte sich im Bett auf.
»Ja.«
»Sollen wir jemanden von Ihrer Familie benachrichtigen?«
»Nein, vorerst nicht.«
Sie hörte, wie sich die Schritte entfernten, die Tür aufging, Geräusche vom Gang hereindrangen, die Tür sich wieder schloss und kurz Ruhe herrschte.
»Guten Tag, Mademoiselle Lecourt.«
Sie zuckte zusammen. Verdammt. Eine Frau war hereingekommen, und sie hatte es nicht gehört.
»Ich bin Inspektor Cottraux vom Kommissariat des siebten Arrondissements. Die Klinik hat mich benachrichtigt. Ich bin sehr bestürzt über das, was Ihnen widerfahren ist.«
Man hatte ihr eine Frau geschickt, um sie zu beruhigen. Wie sooft in ihrem Leben fühlte sich Marie-Jeanne dem System ausgeliefert. Aber diesmal konnte sie nicht ihren Rucksack packen und ans andere Ende der Welt flüchten.
»Können Sie mir erzählen, was passiert ist?«
Die Traurigkeit, die Marie-Jeanne plötzlich empfand, war tiefer und finsterer als ein nächtlicher Tauchgang im kalten Meer. Sie würde der Polizei ihren Engel, ihren Teufel ausliefern, das einzige Wesen auf der Welt, das sie wirklich lieben wollte. Aber konnte sie ihn mit seinem Skalpell entkommen lassen?
»Ich habe ihn im Centre Dulac kennengelernt.«
»Wen?«
»Julien Daumas. Der mir das angetan hat. Gestern wurde im Fernsehen über ihn berichtet. Man hat bei ihm verstümmelte Tiere gefunden.«
»Tatsächlich?«
»Ja.«
Marie-Jeanne erinnerte sich an Cyrilles Bitte.
»Sie müssen Kommissar Maistre benachrichtigen. Meine Tante, Cyrille Blake, hat mir gesagt, dass er bereits Ermittlungen wegen eines Angriffs auf ihre Katze aufgenommen hat.«
Die junge Frau ließ sich auf ihr Kissen sinken, sie fühlte sich grauenvoll.
Bangkok, 12 Uhr 30
Es fühlte sich an wie der Sprung in einen riesigen Ameisenhaufen. Hunderte Männer und Frauen bahnten sich einen Weg durch die schmalen Gässchen des chinesischen Marktes. Der Taxifahrer hatte Cyrille am Eingang zum Viertel abgesetzt und ihr die ungefähre Richtung gezeigt.
Cyrille umklammerte das kleine Stück Papier, auf dem die Adresse von Professor Arom in Thai geschrieben stand. Sie war außer sich. So einfach sollte der Professor nicht davonkommen, sie würde ihn finden, selbst wenn sie bis in seine Höhle vordringen musste. Und sie würde erst wieder gehen, wenn er ihr das Therapieschema, nach dem seine jungen Amnesiepatienten behandelt wurden, erläutert hätte.
Als sie die Postadresse des Professors gefunden hatte, hätte sie vor Freude fast aufgeschrien. Es gab nur einen Arom Sanouk im chinesischen Viertel von Bangkok. Das Schicksal schien sich endlich zu wenden.
Der Markt von Chinatown bestand aus einem Gewirr unzähliger Gässchen. Hunderte kleiner Verkaufsbuden boten ein unbeschreibliches Wirrwarr von Geschirr, Gewürzen, enthäuteten Ferkeln, Teppichen und Schrauben an. Der Geruch nach altem Fleisch, ranzigem Fisch und saurer Milch war stellenweise ekelerregend. Markisen, die sich überlappten, machten jegliche Hoffnung zunichte, ein Stück des blauen Himmels zu sehen.
Es war kurz nach zwölf Uhr, und wo man auch hinschaute, war jedes Plätzchen besetzt und der Blick versperrt – überall Köpfe. Cyrille ließ sich treiben, ohne zu wissen, wohin der Weg sie führen würde. Sie landete an einem Stand mit Gewürzen und traditionellen Arzneimitteln.
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