Begraben
Schwächeanfall zu erleiden. Und sie hatte alle Hoffnung auf diesen kranken Greis gesetzt! Sie klammerte sich an den Ahnenaltar, um nicht zu stürzen. Den Kopf vorgebeugt, atmete sie tief durch. Das Blut pochte in ihren Schläfen. Allmählich ließ das Unwohlsein nach. Der Geruch von Asche stieg ihr in die Nase. Sie hob die Augen und sah direkt über sich die Weihrauchstäbchen, die vor den Fotografien der Verstorbenen des Hauses Arom glommen. In dem Ahnenhäuschen standen ein halbes Dutzend Bilderrahmen in unterschiedlicher Größe. Porträts chinesischer Männer und Frauen. Ihre umherirrenden Seelen schützten die Bewohner.
Cyrille schüttelte sich und wünschte sich plötzlich, Kilometer von diesem Geisterhaus entfernt zu sein. Sie machte, dass sie fortkam, lief die Wohnstraße hinunter. Der lärmende Markt zog sie an wie ein Strudel des Lebens.
Vor einem Verkaufsstand, der zum Sonderpreis Säcke mit Reis anbot, hatte sich ein Menschenauflauf gebildet. Mit tränenfeuchten Augen und dröhnenden Ohren tauchte Cyrille in diese lebendige Gruppe ein, bahnte sich mit den Ellenbogen einen Weg durch die Gässchen, vorbei an dem Gewürzladen, an dem Stand, der stapelweise versilbertes Geschirr anbot, und erreichte schließlich die Hauptstraße. Endlich ein Stückchen Himmel, das Ende des Tunnels. Die Hauptarterie von Chinatown, wo das Leben pulsierte. Cyrille entfernte sich im Laufschritt.
*
Er hatte sie inmitten dieser vor Menschen wimmelnden Straßen aus den Augen verloren. Sie hatte sich in Luft aufgelöst. Julien blieb frustriert stehen. Seit er in dieser belebten Stadt gelandet war, in der die Luft zum Atmen fehlte, fühlte er sich immer unwohler. Es war ähnlich wie in Hanoi, nur noch unmenschlicher. Eine Stimme in seinem Kopf sagte ihm, er müsse sich Cyrille Blake nähern und sie zwingen, mit ihm zu sprechen. Ein Stöhnen drang aus seiner Kehle, in seinem Kopf überschlugen sich widersprüchliche Gedanken. Es roch nach Schweinefleisch. Das war normal, denn er stand neben einer stinkenden Garküche, die merkwürdige Dinge feilbot, klebriges Zeug in Töpfen und Krügen, gehäutete Tiere, die an Haken hingen. Fasziniert betrachtete er die gequälten Kreaturen. Hier aß man tatsächlich alles, sogar rachitische Hühner, eingesperrt in Weidenkörben, aus denen ihre zerzausten Federn büschelweise hervorquollen. Er näherte sich. Eines dieser Hühner hatte glasige, unbewegte Augen, rührte sich aber noch. Er kaufte es für ein paar Baht und strich in seiner Tasche zärtlich über die Schneide seines Messers. Er fand Zuflucht in einer verlassenen Sackgasse, in der sich der Abfall türmte. Es war ein schneller Tod. Er hielt den Körper des Tieres unter dem Arm, mit der anderen Hand schnitt er ihm in die Augenhöhlen. Dann versteckte er es in einem Mülleimer voller Unrat. Er vergrub seine blutverschmierten Hände in den Hosentaschen und ging besänftigt davon. Seine Wut hatte sich mit dem Blut, das aus der Wunde quoll, verflüchtigt. Er fühlte sich besser.
*
Sobald Cyrille den überdachten Markt hinter sich gelassen hatte, brannte die Sonne auf das chinesische Viertel herunter, heizte alles unerträglich auf und machte jede Bewegung zur Qual. Ihr Kleid klebte am Rücken, sogar an den Beinen lief ihr der Schweiß herab. Sie war wütend und verängstigt. Zorn schnürte ihr die Kehle zu. Dieses Mal würde sie mit ihm abrechnen. Sie griff zu ihrem Handy. Benoît hob gleich nach dem ersten Klingeln ab.
»Hier ist Cyrille«, sagte sie gereizt.
»Na endlich! Ich habe mir entsetzliche Sorgen gemacht. Wo bist du? Was tust du?«
Sein Ton war energisch. Vor wenigen Wochen hätte sie das verletzt, jetzt nicht mehr. Es war, als spreche ein Fremder so barsch mit ihr. Etwas in ihr war zerbrochen.
»Wann kommst du zurück?«, fuhr Benoît fort.
Diese Frage wirkte wie ein brennendes Streichholz an einem Heuhaufen. Cyrille unterdrückte einen Wutschrei. Eine Passantin musterte sie. Wann sie zurückkäme? Das ist wohl die einzige Frage, die dich interessiert.
»Was hast du Arom gesagt, dass er sich weigert, mir zu helfen?«, rief sie.
Sie presste das Telefon an ihr rechtes Ohr und hielt sich das andere mit der Hand zu. Benoît versuchte nicht einmal, zu leugnen.
»Ach, er hat es dir gesagt? Er ist ein Scharlatan, ich möchte nicht, dass er dich untersucht und irgendetwas unternimmt. Ich habe ihm gedroht, dass ich die Veröffentlichung seiner letzten Studie in Nature Neurology verhindern würde, wenn er dich
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