Begraben
Videobild trübte sich. Hier war tatsächlich mit einem Handy gefilmt worden. Die digitale Minikamera fuhr rasch über eine Landschaft, Felsen, das Meer, dann sah man die Tür eines stattlichen Gebäudes am Ende eines Sandwegs. Bei Sekunde neun wackelte das Bild, dessen Qualität sehr schlecht war, als es sich auf das Anwesen zubewegte. Bei Sekunde dreizehn sah man offenbar ins Innere des Hauses. Zwei Kinder in Shorts und khakifarbenen T-Shirts, die auf einer Bank saßen und teilnahmslos vor sich hinstarrten. Bei Sekunde zwanzig filmte die Kamera durch ein Fenster, hinter dem man ein großes weißes Gerät in Hufeisenform erkannte. Bei Sekunde fünfundzwanzig bewegte sich jemand neben diesem Gerät. Ein kahlköpfiger Mann in einem Kittel. Dann war nichts mehr zu sehen.
Cyrille Blake saß wie erstarrt auf ihrem Stuhl.
Anuwat Boonkong drehte sich zu der Neuropsychiaterin um.
»Können Sie mir sagen, was das für ein Gerät ist, Frau Doktor?«
»Soweit ich es erkennen konnte, ist das ein offener Magnetresonanztomograf …«
»Eine Art Computertomograf?«
»Ja, aber offen. Ein solches Modell findet man nicht so häufig.«
»Wozu dient diese Art Gerät?«
»Dadurch, dass es offen ist, kann man Operationen durch bildgebende Verfahren in Realzeit überwachen. In Frankreich operiert man damit in Spezialkliniken Gehirntumoren, die schwer zugänglich sind.«
Cyrille Blake erhob sich, ging um den Schreibtisch herum und startete das Video noch einmal. Sie konzentrierte sich auf jedes einzelne Detail und drückte schließlich die Pausetaste.
»Schauen Sie, hier. In dem Gerät liegt jemand, man sieht die Beine.«
Sie richtete den Cursorpfeil auf eine dunkle Stelle im Bild.
»Es ist ein Kind«, fügte sie hinzu.
Ihren Worten folgte ein langes Schweigen. Cyrille starrte auf das Video und das Foto von Dok Mai.
»Haben Sie eine Ahnung, was man da mit ihnen macht?«, fragte Anuwat.
Cyrille schüttelte energisch den Kopf.
»Nicht die Geringste … Wo ist die kleine Dok Mai jetzt?«
»Noch in Surat Thani. Man sucht eine Pflegefamilie für sie.«
»Und die anderen Kinder?«
»Bei ihren Adoptivfamilien.«
Cyrille setzte sich wieder auf den Plastikstuhl und dachte nach, was Arom wohl über diese Geschichte wusste, ihr aber nicht sagen wollte. Die Stimme von Natascha Hetzfeld ließ beide zusammenzucken.
»Was machen Sie da?«
Das Video verschwand vom Bildschirm.
»Ich habe eine großzügige Spende von Frau Doktor Blake erhalten«, antwortete der Sekretär unerschütterlich.
Die Hände in die Hüften gestemmt, stand die Frau in der Tür.
»Wir erwarten Sie zur Besprechung. Auf Wiedersehen, Frau Doktor.«
Das war ein glatter Rauswurf. Cyrille erhob sich, sie war verwirrt. Im Hinausgehen raunte Anuwat ihr zu:
»Ich rufe Sie an.«
Cyrille stand am Fluss und nagte an ihrer Unterlippe. Anuwat hatte ihr eine unglaubliche Geschichte erzählt, und was sie auf dem Video gesehen hatte, war alles andere als beruhigend. Irgendwelche verdächtigen Subjekte unterzogen Kinder hoch spezialisierten Untersuchungen. Was tun sie ihnen an?
Sie kramte in ihrer Tasche nach den Zigaretten, die sie sich gekauft hatte, riss die Folie auf und zog wenig später gierig den Rauch ein. Alles um sie herum begann sich zu drehen. Sie rauchte bis zum Filter und zwang sich anschließend, zum Anleger zurückzugehen, wo sie nicht lange auf ein Schiff warten musste. Sie würde im Buddy Lodge rasch ihre Sachen packen und sich schnellstens ins Hilton begeben.
Sobald sie in dem Langboot saß, vertiefte sie sich in die Betrachtung des Flusses, und ein Gefühl von Unbehagen überkam sie. Sie war in die Außenstelle gefahren, um Antworten auf ihre Fragen zu erhalten, und ging mit noch mehr Fragen fort. Sie schaute auf ihr iPhone: keine neue Nachricht. Nach einem kurzen Zögern öffnete sie das gefälschte Postfach von Benoît Blake auf Gmail. Ihr Puls beschleunigte sich. In der Mailbox wartete eine Antwort von Manien.
38
Paris
»Also so was!«, rief Nino aus. »Meseratrol, das ist doch das Medikament, das Cyrille derzeit im Centre Dulac einsetzt! Sie testet es zur Behandlung von ›Herzschmerz‹ und allen möglichen seelischen Verletzungen.«
Nino sprang auf und sah Tony über die Schulter.
»Laut Wikipedia ist Meseratrol ein Betablocker, der die Herzfrequenz verlangsamt, die Kontraktilität und Erregung des Herzens vermindert, den Sauerstoffverbrauch des Myokards verringert, die Herzleistung verbessert, die atrioventrikuläre Reizleitung herabsetzt
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